Franziska Rauber – Sesamhonigbriefmarken

Umgeben vom lautbelebten Großstadtleben,
inmitten einer Häuserschlucht
versteckt sich von Zeitdieben unentdeckt
verschwiegen ein Trödelmarkt.
Dort, zwischen grauen Fassaden und teergetränkten Nebelschwaden
treiben Geschichten mit wunderlichem Plunder beladen
in einer zeitlosen Bucht.
Ein Tor ohne Tür birgt den Eingang zur vergessenen Welt,
die eingehüllt in Erde und Staub ihre eigene Geschichte erzählt.
von Honigbriefmarken
Kokoska. Ein Dorf im Osten, wo Kriegsdenkmäler groß, die Häuser klein sind, wo Menschen in Armut leben, weil die Mächtigen es so wollen, und sie ihre Bitterkeit in wodkahaltiger Glückseligkeit ertränken. In der Mittagshitze sitzt ein alter Mann am Straßenrand und beobachtet:
Lichtflecken tanzen wie summende Bienen, lecken an der morgenfrischen Schattendecke und stecken sie glutglühend in Sonnenbrand. An die blaue Wand eines ausrangierten Zirkuswagens hat der Alte in gelber Farbe „мед“ gepinselt. Drei Buchstaben nur, die sein Leben sind, 100 Zeilen, um davon zu schreiben.
Arbeit für Herrn G, seit fast 50 Jahren schon. Neue Briefe, immer weiß, immer schwarze Tinte, kommen verschlossen versiegelt in seinem dunklen Kellerbüro an. Sie warten darauf, dass der nach Tabak und Verlorenheit riechende Postbeamte fehlendes Porto aufklebt oder verschollene Adressaten ausfindig macht. Herr G. benetzt die Briefmarken dann mit etwas Spucke und klebt sie mit seinen langen, kratzenden Nägeln auf die Karten. Er hört Schlager und trinkt schlechten Whiskey – sein Dienstgeheimnis. Doch es verirrt sich ohnehin niemand in das letzte Büro im untersten Geschoß, außer den unzustellbaren Briefen. Immer weiß, immer schwarze Tinte, die nicht nach Tinte riecht, sondern nach Sehnsucht, seiner Sehnsucht. Weil die Briefe dahin gehen, wo er noch nie war und von dort kommen, wo er nie sein wird. Immer weiß, weiß, weiß.
Bernsteinfarben bricht sich das Sonnenlicht in den Honiggläsern, die der alte Mann am Straßenrand verkauft. An der Farbe des einfallenden Lichts liest er die Zeit ab. Heute steht die Sonne hoch über der Landstraße, an der sich Strommasten wie hässliche Vogelscheuchen entlang reihen. Zu oft gesehen, zu lange geblieben, zu alt, um aufzubrechen: der Alte ist ein Honigbaron und Bienenkönig, dem sein eigenes Volk entflogen ist. Deshalb schickt er Briefe voller honigtropfender Erinnerungen hinaus in die Welt, an seine Kinder. Allein die Bienen bleiben ihm noch, schwirren aus, um im wirren Geäst der kargen Ginsterbüsche nach Nektar zu suchen. Von „мед“ lebt er, spart und wartet, bis er Briefmarken für 100 Zeilen kaufen kann. Für einen Brief, der von da nach dort geht, irgendwohin, und Erinnerungen mitträgt, nicht weiß, nicht schwarz, sondern bunt.
„Mea“ in Kokoska. Herr G. weiß, wo Kokoska liegt, er hat den Ort auf der Karte gesucht und „Mea“ nachgeschlagen. Russisch, Honig. Er seufzt in seinen speckigen Bart, legt den Brief in die abgegriffene Kiste zu den anderen. Alle zwei Monate Post aus Kokoska, jedes Mal an die gleiche Person adressiert, immer weiß, schwarz, mit einem Tropfen Honig neben der Briefmarke, doch nie zustellbar. Herr G. schließt die Tür zu seinem Kabuff, huscht über den moosgrünen Kellerboden, taucht in das grelle Licht der Verkaufsschalter ein und verschwindet. Dienstende, nach fast 50 Jahren.
Umgeben vom lautbelebten Großstadtleben,
inmitten einer Häuserschlucht
versteckt sich von Zeitdieben unentdeckt
verschwiegen ein Trödelmarkt.
Ein Tor ohne Tür birgt den Eingang zur vergessenen Welt,
die willigen Besuchern ihre Geschichte erzählt.
Dort stehe ich: auf der Bordsteinkante wankend,
schwanke weiterzuziehen oder den Eintritt zu wagen.
Wolkengestöber lichtet flüsternd das Dickicht
und gibt die Sicht auf wunderlichen Plunder frei.
Der verwitterte Korpus eines braunen Koffers kommt zum Vorschein, meine Hände ertasten sein Leder. Es spannt sich über den feuchten Karton wie die wettergegerbte Haut eines Alten. Ich rieche an dem moosig modernden Koffer, öffne den Verschluss und Vergänglichkeit flockt mit Staubmäusen über das wasserblaue, samtene Innenleben. Überall Briefmarken, bunte Briefe mit krakeliger Schrift, blau und gelb, mit einem Tropfen Honig versehen. „Wie viel willst’e jeben?“ Ein hutzliger Mann fährt mit nachdenklich tastenden Fingern behutsam an der äußeren Haut des Koffers entlang. „Icke hab dich jefragt, wie viel de jeben willst“, spuckt er mit kratzender Stimme aus, seine dunklen Augen ruhen auf meinen fiebrig wühlenden Händen. Dreck und Spinnweben haben sich gerade so auf seinem Mantel niedergelassen, als wäre er der Findling vergangener Zeiten und nicht die Gegenstände, die er sammelt. Stumm drücke ich ihm einen Schein in die Hand, nehme den Koffer und mit ihm Erinnerungen an Geschichten, die sich verborgen verloren von Zeitdieben unentdeckt unter einer rostroten Laubdecke versteckten.

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