Auf das Meeting war Plaschke gut vorbereitet. Sehr gut vorbereitet. Wenn nicht sogar optimal. Er wurde nicht nervös, selbst als ihm, im Meetingraum angekommen, bewusst wurde, dass seine Krawatte womöglich ein paar Millimeter zu kurz war. Ihre Spitze sollte eigentlich die Schnalle seines Gürtels sanft küssen. Sie sollte, wie eine Zunge zu Sommerbeginn die erste Kugel Zitroneneis in mühsam unterdrückter Vorfreude behutsam berührt, nur ganz vorsichtig über den gebürsteten Stahl streichen. Aber Plaschkes Zunge war zu kurz.
Plaschke wurde nicht nervös. Nur aus Langeweile, ja geradezu aus Entspanntheit, beinahe leichtherzig zog er seine Krawatte mit einem harten Ruck nach unten. Dies verringerte den Abstand zwischen Spitze und Schnalle nicht, der ja aber ohnehin nur geringfügig suboptimal war. Es führte dazu, dass er nun ein wenig röchelnd atmete, weil die Krawatte, die ansonsten fabelhaft, fabelhaft saß, sich recht eng um seinen Hals schnürte.
Plaschke wurde nicht nervös. Im Gegenteil, er wurde lockerer. Seine Atmung beschleunigte sich und wurde noch hörbarer, damit zugleich fassbarer und berechenbarer. Plaschke war stolz auf sich. Er hatte, zufällig und beiläufig, einen unbestimmbaren, willkürlichen Faktor – die eigene Atmung – zu einer wahrnehmbaren Größe gemacht.
Eine, die ihn nicht mehr überraschen würde. Eine, die er unter Kontrolle hatte. Eine, die zu seiner Transparenz beitrug, gar zu seiner Glaubwürdigkeit. Unter Umständen war er der erste Teilnehmer eines Meetings überhaupt, der seine Kollegen und Vorgesetzten nicht im Unklaren darüber ließ, was sich in pneumatischer Hinsicht in seinem Körper zutrug.
„Ich fand diesen Plaschke sehr überzeugend!“, würde der Head of Project Funds Allocation am Abend beim Afterwork-Cocktail mit der erweiterten Steuerungsgruppe sagen. „Wer so offen und souverän mit seiner Atmung umgeht, dem traue ich auch die Marketingbudgetplanung 1. Quartal 2017 zu“. Die anderen am Stehtisch nickten in Plaschkes Vorstellung – pflichteten dem Head of Project Funds Allocation bei – lobten Plaschke sogar! Als Mitarbeiter, als „Professional“, als Menschen. In Plaschkes Vorstellung hatte der Vice Key Account Manager ein paar Gläser Caipirinha zuviel gehabt und riss sein Handy aus der Tasche: „Lasst uns den Plaschke anrufen!“, polterte er, ein paar Schweißperlen der Erregung auf der schmalen Nase, „Lasst uns den Plaschke anrufen, ich hab‘ jetzt Lust auf den!“ Plaschke griff rasch nach seinem Handy, um den Anruf entgegenzunehmen, als ihm bewusst wurde, dass er im Meetingraum stand, dass es Mittag war, Pre-Afterwork-Dinner-Zeit sozusagen, und dass er die Kollegen und Vorgesetzten erst noch von seinen Qualitäten als Mitarbeiter und als Professional überzeugen würde müssen.
Als Mensch wurde er, soviel wagte er zu unterstellen, bereits ausgiebig geschätzt.
Zum Vorteil geriet es Plaschke, dass er trotz der sich hinziehenden Minuten der Wartezeit nicht nervös wurde. Genaugenommen wähnte er sich sogar in leicht gelöster Stimmung, so gelöst, dass es an ein dezentes Schwindelgefühl grenzte. Auch wenn er nicht vollkommen sicher sein konnte, ob dies nur mit seiner angeborenen Gelassenheit sowie seiner guten Vorbereitung zu erklären war oder auch mit einem gelinden Sauerstoffmangel, der durch die eng geschnürte Krawatte verursacht wurde. Plaschke taumelte und hielt sich kurz an der Tischkante fest, dabei fiel sein Blick wieder auf die Krawattenspitze, die nun noch ein wenig weiter von der Gürtelschnalle entfernt wirkte. Eine optische Täuschung, zweifelsohne.
Plaschke erinnerte sich, dass er vor Jahren im Stern einen Artikel zum Thema Eu-Stress und Di-Stress gelesen hatte, wovon ersterer eine Art positiver, leichter Stress war, der wach und leistungsfähig und aufmerksam machte. Eu-Stress erhöhte das Effektivitäts-Level, führte gewissermaßen zur vorübergehenden Selbstoptimierung. Plaschke hoffte, dass seine grundsätzliche Ausgeglichenheit, seine, ja so durfte man wohl im Jahre 2016 selbst als Professional Plaschke sagen, seine „Coolness“, es nicht vereitelte, diesen segensreichen Eu-Stress zu empfinden. Es wäre schade.
Aber auf „innere Stressoren“, wie der Artikel es genannt hatte, konnte er dafür schon mal nicht setzen, entschied Plaschke. Dazu war er zu sicher, zu selbstbewusst, zu stark. Von natürlicher Nervosität regelrecht stiefmütterlich behandelt, wenn nicht gar gänzlich, sträflich im Stich gelassen, musste Plaschke offenbar alles daran setzen, künstliche äußere Stressoren zu generieren. Er musste auf den Sprossen Plaschke-externer Stressoren auf das durch den Eu-Stress erhöhte Effektivitäts-Level klettern.
Also lenkte Plaschke seine Gedanken nochmals in Richtung eigenes Erscheinungsbild mit Schwerpunkt Distanz zwischen Krawattenspitze und Gürtelschnallenoberkante. Nur so würde er Anspannung empfinden können. Und der Gedanke daran, dass Kollegen und Vorgesetzte registrieren könnten, dass die minutiöse Meeting-Vorbereitung des Professional Plaschke ausgerechnet in etwas so Einfachem wie der Konfiguration der Krawatte ihren Meister gefunden haben sollte – das war ein Plaschke-externer Stressor, der optimal geeignet schien, um Anspannung zu generieren. Aber Plaschke wurde nicht nervös. Er mochte fast sagen, EIN Plaschke wurde nicht nervös. Wenn überhaupt, dann machte ein Plaschke sich nervös. Pro-aktiv, freiwillig, zwanglos. Ein Experiment unter kontrollierten Bedingungen. Und ein Experiment mit Erfolgswahrscheinlichkeit.
Denn als Plaschke einen nochmaligen Blick auf die Gürtelschnalle und die millimeterweite Kluft warf, die zwischen jener und der Spitze seiner Krawatte sich auftat, eine millimeterweite Kluft, die bereit war, jeglichen Anflug von Plaschkeschker Unfehlbarkeit zu verschlingen – bei diesem Blick nach unten schlug sein Herz schneller. Er freute sich. Sein Herz schien bereit, an dem Experiment teilzunehmen. Es pumpte sauerstoffarmes Blut in sein gut vorbereitetes Gehirn. Es drückte dieses Blut zusätzlich in eine Ader auf seiner Stirn, die nun grotesk hervor stand, pulsierte, und ihm, wie er mutmaßte, ein sehr konzentriertes, auch männliches, Aussehen verlieh. Der gesenkte Kopf half ihm dabei, einen Gutteil dieses Blutes nicht nur kurzfristig im Kopf zu zentralisieren, sondern auch dort zu halten. Das führte dazu, dass die Farbe seines Gesichtes sich optimierte. Wenn auf einer Skala das Blütenweiß seines Hemdes eine langweilige 0 war und das Burgunderrot seiner Krawatte eine etwas exzentrische 10 darstellte, dann war Plaschkes Gesichtsfarbe nun eine anmutige 5. Abgerundet.
Plaschke empfand Eu-Stress. Das gestiegene Effektivitäts-Level machte sich sofort bemerkbar. Er erkannte, dass seine jetzige Haltung – stark vornübergebeugt, die Schultern angezogen, den Kopf hängend, die Hüfte zur Seite geknickt – dass diese Haltung schlagartig das Krawattenproblem löste. Deren Spitze berührte jetzt die Gürtelschnalle.
Die Kluft war geschlossen. Die Unfehlbarkeit war sicher. Der Professional war optimiert.
„Wie der Plaschke da so stand, so ganz locker, nicht so steif! Das war ganz große Klasse!“, hörte er den Head of Project Funds Allocation beim Afterwork-Cocktail schon sagen. Der Vice Key Accountant Manager würde ihm beipflichten: „Ich will dem Plaschke sein Gesicht öfter in Meetings sehen. Ich mag dem Plaschke sein Gesicht. Ich mag die Farbe.“ Und die Assistentin der Geschäftsführung – eine Britin, die bislang nie sonderlich Notiz von ihm genommen hatte – würde raunen: „I’ve always been disgusted by German men. But Plaschke, Plaschke is different …“ Beim nächsten Afterwork-Cocktail, das trat Plaschke immer klarer vor Augen, würde er mit am Stehtisch stehen. Ganz locker würde er da stehen. Stark vornübergebeugt, die Schultern angezogen, den Kopf hängend, die Hüfte zur Seite geknickt, die Gesichtsfarbe eine anmutige 5. Vielleicht sogar eine 6 oder 7. Denn sein Herz, weiterhin verlässlicher Teilnehmer im Experiment „Plaschke-Optimierung durch Eu-Stress“, würde noch mehr Blut in sein Gehirn pumpen. Die Caipirinhas, die ihm der Vice Key Account Manager kumpelhaft aufgedrängt haben würde, würden dieses Blut mit weniger irrelevantem Sauerstoff und mit mehr nützlichem Alkohol versetzen. Die Ader auf seiner Stirn würde noch männlicher hervortreten und würde in Richtung der Assistentin der Geschäftsführung pulsieren.
Das durch Eu-Stress erhöhte Effektivitäts-Level würde sein Schulenglisch reaktivieren, so dass er fast Muttersprachlerniveau erreichen würde, wenn er ihr endlich zuflüsterte: „You are se most wonderschön woman in se wörld.“
Das alles stand Plaschke klar vor dem inneren Auge, denn seine äußeren Augen hatten sich als Folge der Luftnot und des rasenden Pulses längst in kleine, blutunterlaufene Schlitze verwandelt, die nur noch dazu dienten, die von der Stirn strömenden Schweißbäche mit Rinnsalen aus Tränen zu verstärken. Resultat: ein salziger Fluß, der ebenfalls zu Plaschkes Transparenz beitrug – oder mindestens zur Transparenz seines weißen Hemdes, welches sich langsam aber sicher mit Feuchtigkeit vollsog und den dunklen Haarkranz um Plaschkes Brustwarzen sichtbar machte – gleichsam zwei weitere Bulletpoints auf der Aufzählungsliste von Plaschkes Männlichkeit.
Als Plaschke so im Meetingraum stand, stark vornübergebeugt, die Schultern angezogen, den Kopf hängend, die Hüfte zur Seite geknickt, die Gesichtsfarbe eine klare 8, die Stirnader weniger eine unterirdische Pipeline als vielmehr ein Aquädukt, das weiße Hemd zur Klarsichtfolie transformiert, der Atem ein Hochgeschwindigkeits-Hechel-Röcheln, die Krawattenspitze wie eine Zunge in zittriger Erregung die Gürtelschnalle gierig liebkosend, als Plaschke so im Meetingraum stand, da konnte er nicht anders, als es zwischen zusammengepressten Lippen hervorstoßen: “Optimal. Als Mitarbeiter, als Professional, als …”
“Mensch! Plaschke!”, rief der Head of Project Funds Allocation erschrocken aus, als er den Ohnmächtigen Minuten später per Ohrfeige ins Bewusstsein zurückklatschte.
“Guck mal, dem Plaschke sein Gesicht – ich mag die Farbe!”, polterte der Vice Key Account Manager.
Und die Assistentin der Geschäftsführung – eine Britin, die bislang nie sonderlich Notiz von ihm genommen hatte – raunte: “I’ve always been disgusted by German men. And now I know why.”
Doch Plaschke machte sich keine Sorgen um das Meeting. Er war gut vorbereitet. Sehr gut vorbereitet. Wenn nicht sogar optimal.