Die Erleuchtung ist ein hehres Ziel. Um sie zu erlangen, ziehen sich manche Menschen jahrelang in ein buddhistisches Kloster zurück. Andere packen nur einen Beutel und wandern durchs australische Outback. Kängurus, zum Beispiel. Ich allerdings wurde von der Erleuchtung an einem besonders exotischen Ort ereilt. Auf der Toilette der Universität Marburg.
Wie man weiß, ist die Philipps-Universität Marburg seit langem eine Bastion der linksprogressiven, antifaschistischen und feministischen Studentenbewegungen. In die Innentür der Toilettenkabine waren die folgenden Sätze eingeritzt: “Wer ein „Nein“ nicht akzeptiert, ist ein Vergewaltiger”. Und: “Wer unerwünschte Komplimente macht, ist ein Vergewaltiger”. Ein Stückchen darunter stand: “Wer das hier liest, ist ein Vergewaltiger.” Allerdings fiel mir schnell auf, dass die Handschrift eine andere war und sich nur jemand einen Scherz erlaubt hatte. Ich war kurz davor, meinen Schlüsselbund herauszunehmen und darunter einzuritzen: Wer sich mit feministischen Parolen Scherze erlaubt, ist ein Vergewaltiger. Da öffnete sich die Tür der Toilettenkabine.
Eine Studentin stand vor mir und sah mich vorwurfsvoll an. Ich erschrak. „Es tut mir leid“, sagte ich, „ist das hier nicht die Herrentoilette?“ – „Doch!“, sagte sie und blickte durch dicke Gläser einer Brille mit Stahlrand streng auf mich herab. „Doch, aber die Tür bleibt offen und Frauen haben Zutritt!
Wir durchbrechen damit die patriarchalen Hierarchiesysteme, die entstehen, wenn auf Herrentoiletten durch nebeneinander angebrachte Urinale und Penisvoraussetzung als Gate-Keeping-Mechanismus die androzentristische Kungelei gefördert und maskulin-normativer Kollektivismus unterstützt wird. Du befindest dich auf einer Transparenz-Toilette, ein Pilotprojekt der Gender Studies Aktivistengruppe für „Persönlichkeitstraining, Intoleranzabbau, Performativitätsaufklärung und Inklusion“, kurz PIPI. „A propos …“, sagte ich und schloss mit einem zerknirschten Grinsen die Tür wieder. Und auch wenn ich an diesem Tag ein letztes Mal auf meinem atavistischen Fetisch bestand, unbeobachtet eine Toilette benutzen zu dürfen, spürte ich: Ich war erleuchtet!
Als ich die Toilettenkabine verließ, bat ich das Mädchen, das sich mittlerweile auf eines der Waschbecken gesetzt hatte und alle Hereinkommenden mit „Mehr PIPI für mehr Gerechtigkeit!“ begrüßte, mir einen Flyer aus ihrem weinroten Jutebeutel zu geben. Da das Akronym PIPI darauf ausgeschrieben wurde, war nicht mehr viel Platz auf dem Flyer. Doch auf den verbleibenden Zentimetern standen die Parolen „Frauen ganzheitlich wahrnehmen!“ und „Frauen sind keine Objekte!“. Mir wurde immer klarer, dass Theodor Adorno recht gehabt hatte, als er sagte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Denn ich – hatte jahrelang falsch gelebt.
Ich war der Ansicht gewesen, meine Zuneigung zu emanzipierten, selbstbewussten und selbstbestimmten Frauen sei ein Zeichen meiner Aufgeklärtheit und modernen Überzeugungen bei der Partnerwahl. Doch ich war ein abscheulicher Macho.
Bei all den klugen, geistreichen und meinungsstarken Frauen, in die ich mich verliebt hatte, hatte ich es primär auf ihre inneren Werte abgesehen. Ganzheitliche Wahrnehmung? Fehlanzeige. „Findest du nicht, dass Marie einen komischen Gang hat?“, hatte mich mal ein Freund mit Blick auf meine damalige Freundin gefragt. Ich hatte geantwortet: „Ist mir noch nicht aufgefallen.“ Ich ekelte mich vor mir selbst.
Wann immer ich die Worte „Ich liebe dich“ zu einer Frau gesagt hatte, das wurde mir nun bewusst, hätte ich sie ebenso gut mit einem Pornomagazin ohrfeigen können. Denn „Ich“ war in diesem Satz das Subjekt. „Liebe“ hatte ich von einem Gefühl zu einer reinen Handlung, nämlich dem Prädikat degradiert. Und „dich“, die Frau … „dich“ war in diesem Satz … das Objekt. Ich verspürte einen Augenblick lang den Drang, meine Zunge abzuschneiden, in einen Umschlag zu stecken und an Alice Schwarzer zu schicken. Zusammen mit einem Kärtchen, auf dem steht: „Mein Sexismus ist mundtot“. Aber ich hatte Angst, ausgerechnet in der progressivsten Toilette der Welt eine Blutlache zu hinterlassen.
Und ich hatte weiß Gott schon genug angerichtet. Denn zu guter Letzt dämmerte mir auch dies: Wenn ich nach einem wunderschönen Abend mit meiner Freundin, nachdem ich ihr eine Schale Früchte mit Schokoladenüberzug ans Bett gebracht und zärtlich den Rücken massiert hatte, sie fragte, ob sie gerne das letzte Stückchen Mandarine in Vollmilchglasur essen mochte und sie glücklich lächelnd „Nein“ sagte und ich es dann trotzdem mit wissendem Lächeln von meinem Teller auf den ihren legte. Dann war ich kein liebevoller Partner gewesen. Sondern ein Vergewaltiger.
Mit diesem Gedanken erbrach ich mich endlich, endlich in eines der Waschbecken. Das PIPI-Mädchen sah mich angewidert an. „Warum heißt es eigentlich „die Kotze“?! Es sollte „der Kotz“ heißen, oder wenigstens „das Kotz“!“
Mir war so schwindlig, dass ich sie nur sehr unscharf sehen konnte und nicht wusste, ob ich meine Antwort „Du hast völlig recht und bist sehr, sehr klug!“ in die richtige Richtung brüllte. Ich taumelte aus der Toilette. Dann taumelte ich wieder in die Toilette, denn ich hatte vergessen, sie ganzheitlich wahrzunehmen. „Außerdem ist deine Brille mit Stahlrand sehr schön und dein weinroter Jutebeutel …“ Sie unterbrach mich: „Es interessiert mich nicht, was Männer über mich sagen auf deren Schuhen noch der Kotz klebt!“
Aber es war zu spät. Ich hatte ihr ein unerwünschtes Kompliment gemacht. Ich hatte nicht nur sie, ich hatte PIPI vergewaltigt. Meine Knie gaben nach. Ich stürzte rückwärts. Mein Kopf schlug auf die Toilettenschüssel. Ich spürte, wie Blut aus meiner Schläfe lief, meine Sinne trübten sich. Ich hörte noch, wie das Mädchen “Du wirst ohnmächtig, wir werden mächtig!” rief, die Kabinentür von außen abschloss und die Toilette verließ. Bevor mir schwarz vor Augen wurde, fiel mein Blick auf eine Zeichenfolge, die ganz unten an der Kabinentür prangte. Dort stand: “Wer diese Transparenz-Toilette lebend verlässt, …”
Ich weiß nicht, wie der Satz weiterging. Denn mir war schwarz vor Augen. Ich war erleuchtet.