Gerhard Reule – Der Fall John Lorber

Der Fall John Lorber.

Am 12. Dezember 1980 wurde im britischen Unterhaus die Einrichtung einer Überwachungsbehörde zur Reinhaltung der Wissenschaft beschlossen. Bereits im Januar des Folgejahres wurde diese Behörde eingerichtet, und am 6.Februar 1981 nahm sie ihre Arbeit auf. Seither arbeitet sie effektiv, und die Fälle von Betrug in den Wissenschaften haben deutlich abgenommen. In den Archiven dieser Behörde fand ich das folgende Interview zwischen dem Interviewer Peter Cunningham und dem leitenden Arzt der Neurologischen Abteilung des Hallamshire Hospitals in Sheffield, Sokrates Varikis.

„Alles, was du sagst, wird aufgezeichnet. Jede deiner Aussagen kann gegen dich verwendet werden. Du hast das Recht, Aussagen zu verweigern. Können wir beginnen?“

„Ja.“

„Wann hast du John Lorber kennengelernt?“

„Er kam im Frühjahr 1983 in unsere Abteilung.“

„In die Abteilung Neurologie des Royal Hallamshire Hospitals in Sheffield?“

„Ja.“

„Welche Position hatte er damals inne?“

„Er war Assistenzarzt. Nach ein paar Jahren, ich glaube 1988, wurde er Oberarzt. Seit Januar 1991 war er für die neurologische Ambulanz zuständig.“

„Wann erhielt diese Abteilung einen Magnetresonaztomographen?“

„Im April 92. Das Gerät stand im Untergeschoß und war für alle Abteilungen da.“

„Wie kam es dazu, dass von John Lorber ein MRT des Gehirns gemacht wurde?“

„Zur Einweihung des Geräts legten wir uns alle reihum, die ganze neurologische Abteilung, in die Röhre. John war keine Ausnahme.“

„Wie hat er das Resultat verkraftet?“

„Er war geknickt. Er wurde sehr schweigsam. Und er war einverstanden, alle Tests mitzumachen.“

„Welche Tests wurden durchgeführt?“

„Alle Tests zur Bestimmung des Gesamt-IQ, sowie alle Tests zur Bestimmung der logisch-verbalen Fähigkeiten. Im Gesamt-IQ, der den Handlungsteil miteinschließt, erreichte er 126 Punkte, im logisch-verbalen Teil sogar 140.“

„Wie hat John Lorber darauf reagiert?“

„Er war aus dem Häuschen wie wir alle. Auf die Katastrophe war gewissermaßen das Wunder gefolgt.“

„Wer hat den Artikel über die Ergebnisse geschrieben und dem Lancet zur Publikation angeboten. Warst du das?“

„Nein, es war John selber.“

„Du warst damals auch verantwortlicher Redakteur des Lancet. Über welchen Zeitraum hattest du diese Position inne?“

„Von Herbst 1990 bis Herbst 1996.“

„Du hast den Artikel angenommen, obwohl du annehmen musstest, dass euch ein gravierender Fehler unterlaufen ist. Warum?“

„Wir haben keinen Fehler gemacht.“

„Was war deiner und John Lorbers Meinung nach das Besondere an seinem MRT?“

„Wir alle, die ganze neurologische Abteilung, standen vor einem Rätsel und tun es noch heute. John hatte praktisch kein Gehirn. Er hatte einen versteckten Hydrocephalus. Einen versteckten Wasserkopf. Etwa 95 % seines Gehirns bestand aus Liquor, also aus Hirnwasser. Normalerweise befinden sich zwischen den Ventrikeln, also den Hirnwasserkammern, und der Großhirnoberfläche ca. 4,5 cm Hirnsubstanz. Bei John war es nur ein Millimeter. Außerdem schätzten wir das Gewicht seines Gehirns auf nur 50 bis 150 Gramm. Ein durchschnittliches Gehirn wiegt 1500 Gramm. Und wie bei einem Hydrocephalus üblich waren hauptsächlich die basalen Hirnstrukturen vorhanden. Die Strukturen für die höheren Hirnfunktionen fehlten nahezu völlig. Wir wissen nicht, wie er zu seinen kognitiven Fähigkeiten kam.“

„Willst du damit sagen, dass das Gehirn zum Denken gar nicht notwendig ist?“

„Doch, normalerweise schon, aber bei ihm stimmte das nur zum Teil.“

„Er selber vertrat in seinem Aufsatz die These, dass ein Gehirn zwischen der uns bekannten materiellen Welt und einer hypothetischen geistigen Welt vermittelt. Er postulierte den Menschen hinter der Kulisse in einer nicht-lokalen Welt. Dabei verglich er ein Gehirn mit einem Radiogerät oder mit einem PC, der online ist. Du weißt, dass dies einen Rückfall in den längst überwundenen Dualismus darstellt.“

„…………..“

„Du schweigst? Nun gut. Wie ging es weiter?“

„Also, wie schon gesagt, die Funktionalität von Johns Gehirn war nicht im Mindesten beeinträchtigt. Da unser Interesse geweckt war, beschlossen wir, alle sechs Monate ein MRT zu machen. Zur Kontrolle gewissermaßen.“

„War John Lorber damit einverstanden?“

„Er hatte es sogar selber angeregt.“

„Was geschah weiter?“

„Nun, die Hirnsubstanz nahm kontinuierlich ab, obwohl wir ihm einen Shunt gelegt hatten, aber der Liquor konnte nicht abfließen.“

„Warum nicht?“

„Wir wussten es nicht.“

„Änderte sich der kognitive Zustand Lorbers?“

„Nein. Wir führten nach jedem MRT die ganze Batterie an Tests mit ihm durch. Sein IQ blieb unverändert, und er zeigte auch keine sonstigen Ausfälle.“

„Warum hast du einen zweiten Artikel über den Fall Lorber im Lancet herausgebracht? Und wer hat diesen geschrieben?“

„Den zweiten Artikel habe ich selber geschrieben. Ich glaubte, es der wissenschaftlichen Welt schuldig zu sein, über die weitere Entwicklung zu berichten.“

„Warum hast diesmal du ihn geschrieben, und nicht Lorber?“

„Er hielt sich trotz des verschwindenden Gehirns wacker. Dann fiel er von einem Augenblick auf den anderen ins Koma. Als gar nichts mehr da war starb er. Das war vor einem Jahr.“

„Du meinst, ganz ohne Gehirn konnte selbst John Lorber nicht leben?“

„So ist es. Wer als Mensch in dieser Welt leben will, braucht ein Gehirn. Aber ich schließe mich Johns Ansicht über den Strippenzieher an. Zumindest beharre ich darauf, dass sein Fall ein Rätsel ist. Ich halte es für immer unwahrscheinlicher, dass das Bewusstsein einzig und allein ein Produkt des Gehirns ist. Eine andere Erklärung sehe ich für das Phänomen John Lorber nicht.“

„Es gibt andere Erklärungen. Ist dir nicht bekannt, dass einige deiner renommiertesten Kollegen zu einem ganz anderen Schluss kommen? Diese Kollegen sind der Meinung, dass nur ein geringer Prozentsatz des gesunden Gehirns überhaupt genutzt wird, und dass es deshalb über eine große Reservemenge verfügt. In Lorbers Gehirn seien bloß die überflüssigen Reserven weggefallen. Außerdem schließen sie, dass man die Bedeutung des Neokortex wohl überschätzt habe, und dass tiefere Hirnstrukturen doch zu kognitiven Leistungen fähig sind. Sie verweisen auf die Plastizität des Gehirns im Kindesalter.“

„Was nicht weniger vage ist als der Strippenzieher. Und auch nicht weniger spekulativ. Können 95 % des Gehirns überflüssig sein?“

„Eine letzte Frage habe ich noch. Dir ist sicherlich klar, dass du mit den beiden Artikeln unsere bewährte Ordnung gefährdet hast. Die ganze Meute von Nichtwissenschaftlern wird sich auf diese Aufsätze stürzen, sobald sie in den Medien davon erfährt. Wir müssen das verhindern, und deswegen musst du widerrufen. Unter deinen Kollegen gibt es sowieso nur wenige, die dir glauben. Aber sehen wir das Ganze vom moralischen Standpunkt aus an. Was willst du den Millionen Menschen mit einem dementiellen Syndrom sagen, deren Hirnsubstanz immer weniger wird und die in Folge davon langsam verblöden? Oder den vielen Menschen mit Hirnläsionen und den daraus resultierenden Fähigkeitsverlusten? Für sie sind die beiden Artikel doch eine Verhöhnung!“

„Im Gegenteil, sie geben Hoffnung. Von schwer dementen Personen wird manchmal berichtet, dass sie unmittelbar vor dem Tod wieder klar werden. Der Fall John Lorber ist ähnlich gelagert. Er gibt ihnen zwar nicht die Hoffnung, wieder gesund zu werden, aber die Hoffnung, dass der Mensch hinter der Kulisse den Tod überdauert.“

„Heißt das, du glaubst an ein Leben nach dem Tod?“

„Ja. Und ich glaube, dass man die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, als intellektuelles Problem wird fallen lassen müssen.“

„Was meinst du damit?“

„Es gibt Fragen, auf die kann der Verstand keine Antwort geben. Dazu gehört die Frage, warum das Universum existiert, aber auch die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Trotzdem kann man zu einer Meinung kommen.“

„Ich lese dir vor, was man dir vorwirft. Du hast erstens gesetzwidrig gehandelt, da du nicht an die Götter glaubst, die der Staat anerkennt, sondern andere neue Gottheiten einführst. Du hast zweitens gesetzwidrig gehandelt, da du die Jünglinge verdirbst.“

„Wie bitte?“

„So lautete die Anklageschrift gegen Sokrates, wie sie Xenophon überliefert hat. Ein Späßchen, das ich gelegentlich mache. Ich bin privat nämlich Philosoph. Das entspannt mich nach den vielen Verhören, die ich jeden Tag führen muss, ungemein. Du wirst doch verstehen. Abends bei einem Gläschen Rotwein denken zu dürfen, was man will. Aber ernsthaft. Wirst du widerrufen?“

Dieses Interview ist erfunden. Die Tatsachen waren die folgenden:

Am 12. Dezember 1980 veröffentlichte Roger Lewin in der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift Science einen Artikel mit dem Titel „Is your brain really necessary?“ Er reagierte damit auf einen Bericht des englischen Pädiaters und Neurologen John Lorber (1915-1996), der keinesfalls einen Wasserkopf hatte, und der in dieser Zeit Professor für Pädiatrie an der Universität Sheffield und Mitglied des Nobelpreiskomitees war. Lorber war Spezialist für Hydrocephali (Wasserköpfe) und hatte kürzlich in Science eine Studie veröffentlicht, in der er über 600 Patienten mit dem CT gescannt hatte. Im Jahr 1980 hatten Amtsärzte der Universität Sheffield einen Mathematikstudenten wegen eines geringfügig zu großen Kopfes eher aus Neugierde zu einer Schädeluntersuchung geschickt. Die Radiologen fanden einen versteckten Hydrocephalus, der es in sich hatte. Man zog den Spezialisten John Lorber konsiliarisch hinzu. Er hatte diesen Fall später selber publiziert und öfter dazu Stellung bezogen. Der Mathematikstudent hatte nicht nur einen Abschluss in Mathematik gemacht, er kam in verschiedenen Tests auf einen Gesamt-IQ von 126 bis 130, und sein „verbaler IQ“, der sich im Gegensatz zum „Handlungs-IQ“ rein auf die Einschätzung von geistigen Fähigkeiten beschränkt, erreichte 140 bis 144 Punkte. Bevölkerungsdurchschnitt ist 100. Lorber kommentierte:

Der Junge hat praktisch kein Gehirn. … Als wir sein Gehirn untersuchten, fanden wir, dass sich anstatt der normalerweise 4,5 cm dicken Schicht von Gehirngewebe zwischen den Gehirnkammern und der Großhirnoberfläche nur eine dünne Lage von ungefähr 1 mm Dicke befand. … Ich kann nicht sagen, ob das Gehirn des Mathematik-Studenten 50 oder 150 Gramm wiegt, aber es ist klar, dass es weit davon entfernt ist, an die üblichen 1,5 kg heranzureichen. Und der Großteil seiner Gehirnsubstanz besteht aus den tiefer liegenden primitiveren Hirnstrukturen, die beim Wasserkopfsyndrom ohnehin relativ unbeeinträchtigt bleiben.

Aber anders als in dem fiktiven Interview nahm die Hirnsubstanz des Studenten in der Folge nicht weiter ab. Lorber zog aus seinen Befunden den Schluss, dass das Gehirn über weite ungenutzte Räume verfüge, und dass offensichtlich auch tiefere Hirnstrukturen zu höheren Hirnleistungen fähig seien. Andere Wissenschaftler hielten dagegen, dass dies eine reine Spekulation und zudem unwahrscheinlich sei, und dass man den Fall des Mathematikstudenten als Rätsel würde stehen lassen müssen. Noch weniger nahmen die Resultate als einen Hinweis auf einen Geist, der hinter dem Gehirn stehe. Doch die meisten Wissenschaftler tun bis heute, was sie bei Rätseln gerne tun: Sie zweifeln einfach die Fakten an.

Quellen:

Lewin, R, (1980). Is your brain really necessary? Science 210, S. 1232-1234

Lorber, J. (1983). Is your brain really necessary? In D. Voth (Hrsg.): Hydrocephalus in frühem Kindesalter: Fortschritte der Grundlagenforschung. Diagnostik und Therapie (S. 2-14). Stuttgart,: Enke Verlag.

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