Textauszüge aus meinem Erzählband Gesänge an die Toten, gelesen am 1.11.2013:
1.
Vorwort
Es ist ein Glücksfall sondergleichen, dass wir, die wir nur noch wenige Jahre vom vierten Millennium entfernt sind, in diesem Buch eine Sammlung von Texten vorstellen können, die ein wenig mehr Licht als bisher auf die epochalen Veränderungen werfen, die vor ungefähr zweitausend Jahren stattfanden oder begannen. Diese Veränderungen liegen trotz vieler facettenhafter Funde und legendenartiger Überlieferungen immer noch weitgehend im Dunkeln. Was wir sicher wissen, ist, dass damals das amerikanische, asiatische oder europäische Inlandseis nicht bestand. Weder die Nord- noch die Südhalbkugel war derart stark vergletschert wie heute. Der Planet war allem Anschein nach stark besiedelt, und die Siedlungen reichten weit über die Äquatorialzone hinaus in Gebiete, die heute unbewohnbar sind. Andererseits lag das Meeresniveau damals höher als heute. Daressalam zum Beispiel war eine Hafenstadt.
Weiterhin gilt es als gesichert, dass nicht das ganze Ausmaß der Zerstörung, welche man im Eis findet, durch die Vergletscherung verursacht ist. Vielmehr scheint es große Brände gegeben zu haben. Auch über elektromagnetische Turbulenzen oder die lokale Streuung von Radioaktivität an verschiedenen Orten wird spekuliert. Es gilt ferner als sicher, dass man damals Technik hatte. Man kannte zum Beispiel Plastik. Einige der Kollegen gehen sogar soweit anzunehmen, dass die Veränderungen, die damals eintraten, von unseren Vorfahren selber in Gang gesetzt wurden. Was sie damit bezweckt haben könnten, ist unbekannt. Umso mehr ruft die Entdeckung einer unversehrten Zeitung, eines Buches oder einer Filmrolle, Material also, das weit mehr als ein Plastikeimer Aufschluss über die damalige Welt geben kann, unter uns geradezu einen Sturm der Begeisterung hervor. Jeder weiß, wie selten solche Funde sind.
Die hier vorgestellten Texte sind deshalb Dokumente von unschätzbarem Wert, will man die Zeit vor zweitausend Jahren verstehen. Denn ging man bisher davon aus, dass die damaligen Menschen unter dem Primat der Vernunft agierten – was bisher die von Professor Soko veröffentlichte Hypothese der Selbstzerstörung so gut wie ausschloss – so erwecken die nunmehr schon vor vier Jahren entdeckten Texte eher den Eindruck, als habe in der präglazialen Epoche die einseitige Fokussierung von – sagen wir es ruhig mythologisch – Gottes rechter Hand umso mehr dessen linke gestärkt. Die Funde von Soko, welche er bei den jüngsten Bohrungen in Westeuropa ans Tageslicht förderte, bestätigen diesen Eindruck. Zwei der drei Buchfragmente berichten von fliegenden Untertassen, spontan entstehenden Mustern in Kornfeldern und ähnlichem mehr. Die Berichte von fliegenden Untertassen galten demnach als historisch schon lange verbürgt. Allerdings schienen diese fliegenden Untertassen um die Zeit der epochalen Veränderungen deutlich häufiger gesichtet worden zu sein als früher. Seither blieben sie aus, und wir zweifeln, ob es sie je gegeben hat.
Die mündliche Überlieferung, welche sowieso die Form von Legenden hat, hat jener Zeit den Charakter eines Strafgerichts gegeben. Nun steckt auch in jeder Mythologie ein wahrer Kern, den es ans Tageslicht zu holen gilt. In einem jener drei Buchfragmente, die Professor Soko gefunden hat, wird ebenfalls von solch einem Strafgericht gesprochen. Darin findet sich auch die Rede von zwei Zeugen, ein Tatbestand, der für das längste unserer hier veröffentlichten Dokumente von Bedeutung sein kann. Die Stelle heißt übersetzt etwa so: „Und ich werde meinen zwei Zeugen geben, in Bußgewändern zu prophezeien tausendzweihundertsechzig Tage lang. Diese sind zwei Ölbäume und die (…) vor dem Herrn der Erde stehen. Wenn ihnen (….). Und ihre Leiber werden liegen auf den Straßen der großen Stadt (….).“ Die Auslassungen bezeichnen leider verkohlte Stellen und sind nicht mehr rekonstruierbar.
Die hier publizierten Texte lagen in einem Packen in Plastik eingeschweißt in neunundfünfzig Metern Tiefe inmitten eines schon länger bekannten Ruinenfeldes. Die Ordnung, die wir vorgenommen haben, ergab sich aus der Schichtung im Paket. Das Motiv der zwei Zeugen aus den Funden Professor Sokos tritt in den von uns gefundenen Texten in der allgemeineren Gestalt der Verdopplung mehrfach auf – nicht nur, aber besonders im längsten und vorletzten Text.
In einem Gespräch hat Soko mir gegenüber die Meinung vertreten, dass die Verdopplung auf Bewusstwerdung hinweist, indem nämlich ein aus dem Unbewussten aufsteigender Inhalt in einem gewissen Moment in zwei identische Hälften zerfällt, in eine bewusste und eine unbewusste. Die Verdopplung wird nicht vom Bewusstsein gemacht, sondern erscheint spontan in den Produkten des Unbewussten. Er meinte, dies sei etwa so, als würde ein moderner Mensch von Isotopentrennung oder der Dublettstruktur von Spektrallinien träumen. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die in unseren Dokumenten vorliegenden Verdopplungen eher komplementär als identisch sind. Alles in allem enthalte ich mich hier einer Meinung, weil ich auf diesem Gebiet nicht kompetent bin.
Der längste und vorletzte Text beschreibt als erster Fund überhaupt den Anfang der derzeitigen Eiszeit. Ihre Ursache, so scheint der Autor zu glauben, liege in einem Übermaß an seelischen Kälteimpulsen. Die Seele des Planeten habe sich – gewissermaßen enttäuscht – mehr und mehr aus dem Stoff zurückgezogen, weshalb der sich immer weiter abkühle. Das ist natürlich antikes magisches Denken, das gleichwohl einer gewissen Suggestivkraft und Poesie nicht entbehrt. Allerdings muss eingeräumt werden, dass die Wissenschaft bis heute keinen Grund für die Abkühlung des globalen Klimas gefunden hat. Denn alle relevanten Parameter sind seit Jahrhunderten stabil. Doch auch zu diesem Thema kann ich letztendlich nichts Fundiertes beitragen und verweise auf die entsprechende Fachliteratur.
Historisches Urteil sowie linguistische Performanz liegen aber in meinem Vermögen. Selbstverständlich sind die Originale der hier publizierten Texte alle in einer alteuropäischen Sprache, nämlich in Deutsch, geschrieben, und ich habe sie für die Veröffentlichung in diesem Buch in unsere Sprache übersetzt, damit sie einem breiteren Publikum als dem der Historiker und Altphilologen zugänglich werden.
Der Herausgeber
Daressalam im Mai 3994
2.
Aus dem Erzählband Gesänge an die Toten, daraus aus der Erzählung Das Leben des Juan Caméras:
Ich bin Juan Caméras und schweige fortan. Niemandem mehr gebe ich Auskunft. Am allerwenigsten über mich. Ich bin Juan Caméras, und der Umstand, dass der Verrückte, mit dem mich der Oberarzt zusammen gebracht hatte und der Hans Kammerer hieß, zum Teil meine Lebensgeschichte kannte, ändert daran nichts. Woher wusste er von Hernando Pizarro und von Teresa, warum nichts von Rodrigo? Wahrscheinlich hatte er gelesen, was ich dem Psychologen diktiert habe, und die Hälfte vergessen. Und wenn er es nicht gelesen hat, dann ist es halt ein Wunder. Es gibt auch heute noch Wunder so wie damals in Spanien, und eines hätte sich fast im Oberarzt vollzogen. Nachdem sich ein verborgenes schon am Psychologen ereignet hatte. Der tot ist. Ich weiß von der türkischen Putzfrau davon, niemand hätte mir sonst erklärt, warum der Psychologe nicht mehr kommt. Die Putzfrau ist geschwätzig wie eine Amsel. Sie hat einen Bruder, der bei der Kriminalpolizei arbeitet, und deshalb weiß ich sogar von der Todesanzeige im Computer des Psychologen, und dass der Schuss in den Brustkorb trotzdem ein Zufallstreffer war. Ich habe der Putzfrau hoch und heilig versprechen müssen, sie nicht zu verraten, und daran werde ich mich halten, weil ich sowieso nichts mehr sage. Ich bin von nun an still wie der Schnee.
Beim Oberarzt bestand das Wunder darin, dass er eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad machte. Jedenfalls fast. Seine Kraft reichte nicht ganz. Ich habe ihn in den letzten Wochen oft geistesabwesend erlebt, er war mit den Gedanken häufig anderswo, nicht bei der Sache, und ich konnte mir gut vorstellen, was in ihm vorging.
Der Schnee draußen fällt in großen Flocken. Eine wunderbare Ruhe ist das. Ich habe mich entschlossen zu schweigen, ich bin müde und der Schnee bringt mir den Frieden. Seit Tagen schon schneit es, und ich hätte nichts dagegen, wenn die ganze Welt unter dem Schnee verschwinden würde.
(Bald ist meine Hochzeit, Jorge. Läute die Glocken! Und du Rodrigo, wirst du mich empfangen mit einem Lächeln auf deinem Honigmund, das mich trifft wie ein Sonnenstrahl?)
Wahrscheinlich hat der Oberarzt den Kriminalbeamten gefragt, ob das auch wahr sei, nachdem der ihm von dieser Todesanzeige erzählt hatte in der Hoffnung, der Arzt und ehemalige Kollege des Toten könnte ihm einen Tip dazu geben. Ich nehme an, der Oberarzt kam ins Grübeln. Langsam – so stelle ich mir das vor – fraß der Rost sein eisernes Weltbild an. Er versuchte sicherlich so lange es ging, von einem Zufallstreffer zu reden, aber er empfand diese eine Merkwürdigkeit bestimmt nicht als zufällig. Der Kriminalbeamte offensichtlich auch nicht, sonst wäre er nicht zu ihm gekommen.
„Ist das auch wahr?“ fragte der Oberarzt also den Mann von der Kripo.
Dieser nickte vielleicht stumm mit dem Kopf. Denkbar ist auch, dass er „ja“ sagte, oder „Mein Ehrenwort!“ oder dass er sogar in hölzerner Sprache einen tiefenpsychologischen Kommentar von sich gab, wie man ihn in einem Lehrbuch hätte finden können, obwohl ich mir das bei einem Polizisten nicht so recht vorstellen kann. Etwa so: „Das Unbewusste dessen, der diese Todesanzeige erstellt hat, wusste anscheinend von seinem nahen Tod, aber das Bewusstsein hat die große Nähe zum Tod nicht ausgehalten. Deshalb hat der Verfasser der Todesanzeige das Datum nach hinten gespiegelt.“
Ich nehme an, zuerst wiederholte der Oberarzt fast mechanisch diese Worte, wenn sie denn gesagt worden sind. Sogleich fügte er hinzu: „Bloß, wie kann das Unbewusste so etwas wissen? Und wenn es das wissen kann, dann vieles andere auch!“ Er – ich denke mir das so – verspürte Lust, sich den irrationalen Abhang hinabrollen zu lassen. Er begann deshalb, meinem Lebensbericht den nötigen Tribut zu zollen. Er registrierte mit der Empfindsamkeit eines Seismographen eine leichte Erschütterung, die er als prickelnd empfand. Soviel und nicht mehr. Aus der Bahn warf sie ihn nicht. Dann noch mal eine kleine Erdbebenwelle. Sie fühlte sich an, als wäre er über eine Gleisnaht gefahren. Als er ihr nachging, fand er als Epizentrum des Bebens mein Diktat und als Hypozentrum meinen Glauben, kurz vor dem Inferno zu sterben. Außerdem hatte ich kundgetan, achtundvierzigeinhalb Jahre alt zu werden. Das Beben wurde stärker.
Der Oberarzt hätte nun Bilder haben können. Mit den Bildern hätte er die Gemeinsamkeit mit den anderen und die Demut gewinnen können. Er wollte aber keine Bilder und schon gar keine Demut. Wie schon gesagt, seine Kraft reichte nicht ganz für ein Wunder. Er wollte nichts anderes als herausfinden, wie alt ich bin. So ungefähr muss es gewesen sein. Dadurch hoffte er, das Datum für den Beginn des Infernos zu erfahren.
Er trat deshalb gestern mit einer nur schwer zu verbergenden Neugierde in mein Zimmer ein. Ich war allein im Raum. Ich saß in meinem Sessel am Fenster und schaute dem fallenden Schnee zu. Ein Tisch war neben dem Sessel an die Wand gerückt. Ich stand auf und ging dem Arzt entgegen. Dieser taxierte mich mit forschendem Blick, er versuchte ganz offensichtlich in der kurzen Zeit, die es brauchte, mir die Hand zu geben, mein Alter zu schätzen. Es gelang ihm beim besten Willen nicht. Hätte er mich gefragt, ich wäre inzwischen selber unsicher gewesen. Natürlich war ich bis vor kurzem noch ein ziemlich alter Mann, nämlich vierundsechzig Jahre alt, aber mit ihren vielen Einwänden und dem schrecklichen Durcheinander der Zeiten wurde ich ganz wirr im Kopf. Da gab sich der Oberarzt einen Ruck und fragte mich tatsächlich: „Sagen Sie, Juan – ich darf Sie doch so nennen? – , mal erzählten Sie, Sie seien vierundsechzig, dann wieder, dass sie mit achtundvierzig sterben würden, wie alt sind Sie denn eigentlich wirklich?“
Ich stutzte für einen Moment. Natürlich stutzte ich, was sonst hätte ich tun sollen? Dann drehte ich mich um und kehrte ans Fenster zurück. Auf dem Tisch lagen ein Notizblock und ein Bleistift. Ich setzte mich und fing zu rechnen an. Ich wollte die Sache ein für alle Mal klären, also machte ich es schriftlich. Schließlich schaute ich auf und lachte den Oberarzt an. Ich war meinem Alter nämlich auf den Grund gegangen. „Ich habe es soeben ausgerechnet“, sagte ich. „Vierhundertsiebenundachtzig Jahre.“
Der Oberarzt stöhnte auf. Hat der Grund zu stöhnen?
Ich erhob mich wieder. Draußen fiel endlos und sanft der Schnee. So billig kommst du mir nicht davon, dachte ich. Dann legte ich die gefalteten Hände vor die Brust und sprach mit feierlicher Miene (es war das Letzte, was ich sagte): „Und nun offenbare ich mein Schweigen. Für künftige Generationen (wenn es sie gibt), für ganze Völker bin ich wortlos. Glücklich.“