Gerhard Reule – Sigillenzauber

 

Der Vollmond schien in Herbert Muschiks Schlafzimmer, das er auch als Arbeitszimmer nutzte. Alte Menschen schlafen schlecht, und statt sich im Bett zu wälzen, saß er am Schreibtisch und brütete über einer Lücke im juristischen Regelwerk. Er hatte die Kanzlei schon vor zehn Jahren verlassen, aber gewisse kniffelige Fragen seines Faches beschäftigten ihn noch immer. Hinzu kam, dass er seit seiner Berentung über die interessantesten Fälle, auf die er stieß, Geschichten schrieb. Einige von ihnen konnte er veröffentlichen. Vor ihm lag das Zentralblatt für Okkultismus von 1931, 25. Jahrgang, und aufgeschlagen war die Seite 519. Dort prangte der Titel Schwarze Magie in Italien zu einem Bericht des Schriftstellers Alexander von Bernus. Herbert las in etwa folgendes:

Ich besuchte kurz vor dem ersten Weltkrieg mit einem Freund einen kleinen Ort in Oberitalien. Dort waren immer wieder junge Männer an einer Art Fieber erkrankt und gestorben. Mein Freund war medial und schrie plötzlich: „Hexe, Westtor, Läden, eilt!“ Wir fanden am Westtor eine verschlossene Hütte, aus der Geräusche kamen. Wir versuchten daraufhin die Polizei zu holen. Doch nur der Nachtwächter war nach einer Zahlung bereit mitzugehen. Als wir die Tür zu der Hütte aufbrachen, entdeckten wir eine alte Frau in Trance, vor der eine Kerze langsam eine Puppe versengte, die mit einem kleinen Dolch durchbohrt war, an dem ein Zettel mit dem Namen eines gerade an Fieber erkrankten Mannes steckte. Als der Nachtwächter die Frau anfasste, starb sie. An der Wand befanden sich 8 bis 9 kleine Dolche, an denen Zettel mit den Namen bereits verstorbener Männer steckten. Ein juristisches Nachspiel hatte das alles nicht.

Herbert Muschik dachte nach. Magischer Todeszauber wird für gänzlich unmöglich gehalten und deshalb strafrechtlich nicht verfolgt. Im vorliegenden Falle hätte die alte Frau allerdings nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können, denn sie war tot. Wie es ihr nun nach dem Tode erging, wollte er sich lieber nicht vorstellen.

Er legte den Artikel auf einen Stapel links von sich und holte sich ein weiteres Periodikum von einem Stapel zur Rechten. Diesmal las er im schon genannten Zentralblatt, allerdings von 1930, auf der Seite 562 den Titel Warnung vor leichtfertigen magischen Praktiken zu einem Aufsatz von Sav Nemo. Darin beschreibt der Verfasser die katastrophalen Folgen eines Sexualzaubers aus der Ferne, den der 19-jährige Sohn des Hausmeisters einer Schule an einer 16-jährigen Mitschülerin, die ihn abblitzen ließ, mit Hilfe eines Freundes durchführte. Der Zauber bewirkte Halluzinationen und einen Nervenzusammenbruch des Mädchens. Herbert Muschik fragte sich, ob der Junge hätte strafrechtlich belangt werden können, da er gestanden hatte. Allerdings lenkte das Thema Sexualmagie seine Aufmerksamkeit auf den mit Scham besetzten Mangel der Alten, und das Interesse an der Juristerei war für den Abend wie weggewischt. Überhaupt fiel ihm ein Freund ein, der Redakteur für das Feuilleton der hiesigen Tageszeitung war, und den er jüngst mit seiner Tochter in der Innenstadt getroffen hatte. Ihm hatte er eine Geschichte über den Mangel der Alten versprochen.

Er schaltete also den Computer ein. Die Tischlampe warf einen diffusen Lichtkegel auf die Schreibtischfläche. Hinter ihm auf dem Sofa schlief sein Kater Valentino. Valentino war auch schon alt, und trotzdem war er noch ein passabler Jäger. Im Sommer hatte er einmal eine Ratte und einmal eine Maus nach Hause gebracht und beide mit Fell und Knochen gefressen.

Jetzt zermarterte sich Herbert Muschik das Gehirn wegen der versprochenen Geschichte. Sein Freund hatte gemeint, die Sexualität alter Menschen sei eines der letzten Tabuthemen und könnte die Leser interessieren. Die Alten haben viele Mängel, vor allem gesundheitlicher Natur, dachte Herbert Muschik, und er war der Meinung, sie sollten sich um eine spirituelle Haltung bemühen, da der Tod nahe ist. Er selbst glaubte an ein Jenseits und an Engel, er kannte aber auch den mit Scham besetzten Mangel der Alten. Dieser rührt daher, dass die Wünsche und das Material nicht mehr zusammenpassen. Vor schwarzer Magie allerdings hätten sich seine Engel geekelt.

Es war kurz nach Mitternacht, als er durch die Wand, an der sein Schreibtisch stand, gedämpfte Musik hörte. Schon war er genervt, denn dies wiederholte sich seit kurzem jede Nacht aufs Neue. Es handelte sich um orientalische Musik, einen Gesang und ein Gedudel, die auf und ab ebbten wie die Dünen des Wüstensands. Die Klänge kamen aus der Wohnung, die an seine grenzte. Etwa eine Viertelstunde dauerten sie an, dann wurde es still. Wenige Minuten später hörte er ein Geräusch wie bei einer Verpuffung, kurz darauf minutenlang ein teils schlagendes, teils schabendes Geräusch, dann war es wieder still. In dieser Wohnung auf der anderen Seite der Wand lebte Elfriede Lehmann, die ursprünglich aus Wuppertal stammte und kurz nach seinem Einzug hierhergezogen war. Da hatte er eine Idee für eine Geschichte, die er zwar etwas verrückt fand, die er aber dennoch sogleich mit Lust in Angriff nahm. Seine Lektüre wirkte noch nach.

Elfriede, die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe und Protagonistin eines Schlagers von 1958, war in die Jahre gekommen. Das Haar war dünn und weiß geworden, sie schien aus Stangen unterschiedlicher Größe zusammengesetzt zu sein, und alles an ihr hing. Lediglich in ihrem Herzen regte sich noch jugendliche Sehnsucht, und in ihrem Schritt die unanständige Lust. Ziel ihres Verlangens war Adrian, der Student, der im Erdgeschoß wohnte. Adrian war groß und schlank und männlich und freundlich. Er hatte ein ausgefranstes linkes Ohr, seine Augen waren meistens von seinem langen, schwarzen Haar verdeckt, und seine krumme Nase war einmal gebrochen. All das verlieh ihm das kühne Aussehen eines Indianers oder Piraten, das sie anzog. Zu gerne hätte sie mit ihren dünnen Fingern seine Haare zerwühlt, oder noch besser, ihm eine Strähne stibitzt oder ihn um ein Foto von sich gebeten, aber sie traute sich nicht. Adrian indessen war ahnungslos. So fing Herbert Muschiks Geschichte an.

Aus Mangel an Erfüllung hatte sie sich auf zwielichtige Methoden eingelassen, und deshalb klemmte sie in der Zeit fest. Man hätte auch von einer Sucht sprechen können, denn der Süchtige lebt in einer Zeitschleife.

Den Sommer über war sie damit beschäftigt gewesen, ihre Wimpern in einem Plastikdöschen zu sammeln. Mehrmals am Tag hatte sie ihre Augen gerieben und dann mit einem Taschenspiegel nach feinen Härchen gesucht, die sich gelöst hatten. Schließlich hatte sie ein Duzend zusammen gehabt. Sie hatte sie in einen Kuchenteig gestreut und einen Schokoladenkuchen gebacken. Von dem hatte sie ein großes Stück ins Erdgeschoß getragen und Adrian angeboten. Er hatte es dankbar angenommen. Das war einfach, hatte sie gedacht, aber sie hatte nicht lächeln müssen. Sie hatte nicht erwartet gehabt, dass der Junge so vertrauensselig war, und es hatte sie gerührt. Einen Augenblick lang hatte sie Gewissensbisse bekommen, war aber darüber hinweggegangen. Dann hatte sie eine Woche gewartet, und als sich im Verhalten Adrians nichts geändert hatte, hatte sie die Methode gewechselt.

Eine Haarsträne von ihm oder ein Foto hätten alles viel einfacher gemacht und wahrscheinlich auch genügt. So aber musste sie sich jede Nacht splitternackt ausziehen und eine aufwändigere Prozedur praktischer Magie durchführen. Immerhin folgte sie keinem System der Ritualmagie wie etwa dem von Eliphas Levi, Aleister Crowly oder Franz Bardon, denn deren magische Riten waren noch umständlicher als ihre Methode und zogen jede Menge Astralschrott an. Obwohl sie eingeheizt hatte, war es kühl im Zimmer. Sie hüllte sich in ihren flauschigen weißen Bademantel, setzte sich an ihren Schreibtisch, der jenseits der Wand genau vor Herbert Muschiks stand, und schrieb im Schein einer Kerze unter Aufbietung äußerster Konzentration ihren unanständigen Wunsch auf ein leeres Blatt Papier. Anschließend strich sie jeden mehr als einmal vorkommenden Buchstaben durch, und die übrig gebliebenen zeichnete sie auf ein zweites Blatt Papier und ordnete sie so an, dass die entstandene Figur mit ein wenig Phantasie einem Liebespaar beim Liebesakt ähnlich war. Die ganze Zeit hielt sie ihre Konzentration aufrecht. Die Figur diente als magisches Siegel, das unter Zauberern und ihren Adepten auch Sigille genannt wird. Diese musste jetzt noch mit Energie aufgeladen und der Verstand ausgeschaltet werden. So wollte es das Grimoire des großen Magiers Austin Osman Spare, der von 1886 bis 1956 in England gelebt hatte, und das sie in den Siebzigerjahren in einem Londoner Antiquariat für fünf Pfund erworben hatte. Sie schob die Sigille in die Mitte der Schreibtischplatte und rauchte einen Joint.

Nach einer hartnäckigen Hustenattacke legte sie eine CD mit orientalischer Musik ein, ließ den Bademantel auf den Boden gleiten und begann mit ihrem Bauchtanz. Sie war ziemlich eingerostet, Knie und Hüftgelenke waren arthrotisch, aber die Übung, die die nächtlichen Wiederholungen mit sich brachten, hatte sie wieder etwas gelenkiger gemacht. Ihr Wille und ihr Begehren halfen ihr über die anfänglichen Schmerzen hinweg, und den Rest erledigte der Joint. Anfangs waren die Bewegungen vorsichtig, dann wurden sie runder, schließlich kam sie für ihre Verhältnisse in Rage. Nun dauerte es nicht mehr lange bis zur Evokation. Adrian streckte seinen Kopf aus der Wand. Er sah sich verwirrt um. Elfriede lächelte zufrieden und wissend, denn sie wusste, dass Adrian eigentlich im Erdgeschoß in seinem Bett schlief. Sie war überzeugt, dass er den schönsten aller erotischen Träume träumte. Er durfte ihr zu Diensten sein. Tatsächlich hatte er aber einen äußerst verstörenden Alptraum.

Sie winkte ihn zu sich, und er trat ganz aus der Wand heraus und versehentlich auf die Sigille. Jetzt materialisierte er sich vollends. Da stand er nun, in all seiner kühnen Schönheit. Er hatte lediglich ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, war sonst aber nackt wie sie. Als er den Schreibtisch hinunterstieg, rutschte auch das Handtuch auf den Boden und legte sich neben den flauschigen weißen Bademantel. Und so standen sich die beiden nackt gegenüber. Er umarmte sie gehorsam, wie es auf dem Zettel gestanden hatte, und sie tat es ihm gleich. Dann wanderten seine Hände ihren Körper entlang. „Leidenschaftlicher!“, befahl sie. Da betatschte er sie so schnell und vollständig, dass sie fast das Gefühl hatte, von ihnen bedeckt zu werden. Sie nahmen von ihr Besitz, bewegten sich überall hin und schließlich in sie hinein. Was folgte, war ein Zungenkuss. Doch jählings schnellte seine Zunge tief in ihren Schlund vor, so dass sie würgen musste. Der Zauber hakte wie jede Nacht an dieser Stelle, denn Adrian wehrte sich in seinen Träumen aus Leibeskräften. Als schließlich seine Zunge auch noch an ihrem Kehldeckel kleben blieb, stieß sie ihn entsetzt zurück. Die Zunge zog sich in die Länge wie ein Gummiband und blieb weiter kleben. Zu guter Letzt tat es „Puff“, und er war nicht mehr da. Dafür klebte nun ein hellgrüner Laubfrosch mit seiner langgezogenen Froschzunge an ihrem Kehldeckel.

Herbert Muschik hatte sich in der Zwischenzeit ein Glas Old Bushmills genehmigt, was ihn in einen wohligen samtenen Nebel hüllte und für die Qualität dieses Einfalls verantwortlich war. Er stellte sich die Szene lebhaft vor, und diese Vorstellung erweckte in ihm ein Gefühl der Heiterkeit, die sich erst in seinem beschwipsten Hirn, dann im ganzen Körper breitmachte, so dass er schließlich Lachen musste und bebte vor Lachen.

Anscheinend hörte ihn Elfriede in seiner Geschichte lachen, und sie fand das gar nicht lustig, denn sie versuchte zu schimpfen, was nicht ging, weil sie würgte. Der Liebeszauber gewann wieder an Kraft und schließlich die Oberhand mit dem Effekt, dass Adrian ihr verfiel, aber er blieb dennoch ein Frosch. In einer Mischung aus Panik und Wut riss sie ihn los und ließ ihn fallen. Er plumpste kaum hörbar zu Boden, wo er nun saß und sie von unten her anhimmelte. Sie aber eilte angeekelt ins Badezimmer. Ihr erster Impuls war, die Tür abzuschließen und in die Kloschüssel zu kotzen, aber sie besann sich eines anderen. Stattdessen ergriff sie ein Handtuch und drehte den Wasserhahn auf. Mit dem nassen Handtuch bewaffnet kehrte sie ins Zimmer zurück und begann, damit nach ihm zu schlagen. Er erkannte den Ernst der Lage und hopste auf den Stuhl und von dort auf den Schreibtisch. Beinahe hätte ihn ein wohlgezielter Schlag getroffen. Mit einem dritten Satz erreichte er den Rand der Schreibtischplatte, und mit einem vierten kühnen Sprung verschwand er in der Wand. Gefolgt von einem neuen Schlag Elfriedes mit dem nassen Handtuch, der aber an der Wand zerschellte und einen feuchten Fleck hinterließ. Mehrere Minuten lang schlug sie immer wieder das nasse Handtuch gegen die Wand.

Damit war für Elfriede der Zauber zu Ende. Nächste Nacht würde sie ihn wiederholen. Und jede weitere Nacht, bis es endlich klappen würde. Auch für Adrian war der Alptraum nur fürs Erste vorbei.

Herbert Muschik hatte einen etwas metallenen Geschmack im Mund, als er die Geschichte abspeicherte und den Computer herunterfuhr. So richtig zufrieden war er nicht. Sie war aus dem Ruder gelaufen. Er hätte sich gar nicht erst darauf einlassen sollen. Er konnte sie seinem Freund unmöglich anbieten. Wenn ein alter Mann über den Mangel an sexueller Erfüllung schreibt, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Auch sein Freund hätte das wissen müssen. Allerdings musste er ihm zu Gute halten, dass er deutlich jünger war als er. Dass sie kein gutes Ende hatte, ließ ihm keine Ruh. Sie hatte überhaupt kein richtiges Ende. Dieser Makel war schuld daran, dass er eine Woche später noch einen Schluss erfand und dranhängte. Dabei störte es ihn nicht mehr, dass dieser noch abstruser wurde als die Geschichte selbst. Er trat nun selber in die Geschichte ein. Der Schluss ging so:

Ich erschrak nicht wenig, als aus der Wand hinter meinem Schreibtisch ein knallgrüner Laubfrosch geradewegs auf die Schreibtischfläche hüpfte. Grün ist die Hoffnung, dachte ich, und die stirbt bekanntlich zuletzt. Jetzt wollte ich der Nutznießer von Elfriedes Zauber sein. Schon gut, ich weiß nicht, was Elfriede Lehmann hinter der Wand tatsächlich getrieben hat, und sie kam auch nicht in dem Schlager von 1958 vor. Ich weiß nicht, was die Geräusche erzeugte. Der Zauber war von mir bloß erfunden. Aber ist nicht jeder, der Geschichten erfindet, selber irgendwie ein bisschen Zauberer? Jedenfalls war ich plötzlich in der Geschichte drin. Der Frosch sah verängstigt aus, ganz so, als wollte er gleich wieder weiter. Ich hingegen wollte nicht zögern und ihn sogleich küssen. Mit einem „Puff“ sollte er sich in Adrian zurückverwandeln. Er sollte vor mir auf dem Schreibtisch kauern und mir seine Lippen oder – je nach Bedarf – den Hintern entgegenstrecken. Er hätte sicherlich ein Speedo an, oder besser, nur ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, und wenn er zu mir herunterstiege, verlöre er auch dieses. Aber leider war mein Kater Valentino erwacht und schneller als ich. Und ich? Ich hatte das Gefühl, dass etwas in Ordnung gebracht worden war.

Adrian habe ich übrigens heute Morgen getroffen, als ich zum Bäcker ging. Er hat mich freundlich gegrüßt, und das hat mich gefreut. Ich habe einmal gelesen, dass eine Pflanze bei Nacht selbst auf die Entfernung von dreißig Kilometern noch das Licht einer Kerze wahrnehmen kann.

 

 

 

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