Sonniger Mittwochmorgen im Juni kurz vor zwölf Uhr. Es ist leicht bewölkt, aber mehr nach Art eines Chemtrail. Beim Gießen meiner Fensterbankblumen vernehme ich die Stimmen wieder, die sich nach einer Unterhaltung anhören. Das Wasser spritzt über die hellgrünen Blätter der Hemingway-Minze und des Salbei, wirft Tropfen vom Rosmarin und dem dicht gewachsenen Oregano, während mein Blick über die Balkone am Nachbarhaus schweift. Im Hintergrund gurgelt meine Kaffeemaschine, sonst ist es ruhig. Auf den Balkonen im dritten Stock steht einzig eine alte Frau in rotem knielangen Rock, darüber ein goldbraun meliertes Hemd mit angedeutetem Blumenmuster, ihre grauen Haare sind zu kurzen krausen Locken gedreht und auf der Nase blinkt eine goldumrandete Brille. Auf den restlichen Balkonen stehen verwaiste Sonnenschirme, blühen Kübelpflanzen und Blumenkästen in allen Farben und wehen hier und da die bunten Kleidungsstücke zum Trocknen auf den Wäscheleinen. Ihr Balkon ist leer, liegt noch etwas im Schatten durch den darüberhängenden, und hinter ihr ist der Rollladen wie bei den meisten Fenstern heruntergelassen. Ich hole neues Wasser aus der Küche. Oft schon habe ich sie am Mittag mal kurz dort gesehen. Sie muss alleine wohnen, denn sonst ist nie etwas los auf ihrem Balkon. Ich spiele mit dem Gedanken, einen schönen Tag hinüberzuwünschen und trete mit zwei wassergefüllten Karaffen erneut an mein Fenster. Ein warmer Luftzug weht mir entgegen. Ich genieße es. Beginne meine Kräuter zu gießen, blicke erneut zu ihr herüber. Da erkenne ich, dass sie den Mund bewegt und dass es ihre Stimme ist, welche jenes erhörte Gespräch zu führen scheint, dessen Quelle ich noch nicht ausmachen konnte. Konzentrierter höre ich zu ihr. Der Gedanke sie zu grüßen ist verflogen. Sehe sie dort stehen, im Schatten an die Hauswand gelehnt und vor sich hinsprechend. Ganz genau kann ich die Worte nun zuordnen, die unterschiedlichen Stimmlagen ihrer eigenen Unterredung verstehen. Ihre Einsamkeit schreit im übertragenen Sinne von ihrem kahlen Balkon. Bricht mit jedem aufgewirbelten Staubkorn aus der Dunkelheit ihres Wohnzimmers an die sonnige Öffentlichkeit. Doch wer außer mir hört es, wer registriert es, wen kümmert es? Die Einsamkeit der Menschen treibt Blüten in den seltsamsten Formen. Nachdenklich drehe ich mich mit den leeren Karaffen vom Fenster weg, schreite erneut in Richtung Küche aus. „Sie hat nur mit sich selbst gesprochen“, höre ich mich auf dem Weg zu mir selbst sagen.