Franziska Rauber – Uferlos

Es dämmert. Der Mann blickt aus dem Fenster seiner Wohnung und beobachtet die konturlosen Gestalten auf der Straße. Wie sie eilen. Ihm scheint, als verstreiche die Zeit mit der Eintönigkeit langsam inhalierter Zigarettenzüge. Er stößt eine teerschwere Rauchwolke in die Luft und schaut ihr dabei zu, wie sie sich verflüchtigt. Ein grauer Schleier schiebt sich zwischen ihn und die Welt, sein Blick wird trübe. Die Straßen seiner Heimatstadt kommen ihm befremdlich und abweisend vor. Mit einer unbestimmten Bewegung wendet er sich vom Fenster ab und zieht den Vorhang zu. Zögernd überlegt er, nicht doch zu Hause zu bleiben, zu rauchen und wie gewöhnlich alleine auf die Nacht zu warten. Als wollte er sich bei ihm vergewissern, sucht er Titos Blick auf dem Portrait über der Tür. Tito starrt ihn unverwandt stechend an und einen Augenblick lang reißt ein Loch in die abgestandene Zimmerluft. Der Mann nimmt plötzlich ganz deutlich den süßlichen Geruch faulenden Abfalls wahr, der die Schicht aus Rauch und Dunst zu zersetzen beginnt. Ich vegetiere, flüstert er in die Leere des Zimmers. Er lacht zynisch, drückt die Zigarette aus und greift nach seinem Mantel. Draußen empfängt ihn die Dunkelheit wie eine schützende Hand. Auf den unebenen Steinplatten bewegt er sich mühsam fort, jeder Schritt ermüdet seine ungelenken Glieder. Ich bin ein Greis geworden. Zu früh, denkt er. Mittlerweile hat er das Ufer des matt dahinfließenden Flusses erreicht. Auf der Wasseroberfläche spiegeln sich bunte Lichter, die sich bogenförmig über den Fluss spannen. Nur noch einige Meter trennen ihn von der Brücke. Er hält inne, betrachtet den Lichtertanz und lässt die Stadtgeräusche zu sich dringen. Wie ein Alkoholiker auf Entzug berauscht er sich an Erinnerungen, die er längst verdrängt zu haben glaubte: der Geschmack geklauter Drina-Zigaretten, Abenteuer und Übermut, das Leben, das er einmal gehabt hatte, naive Jugend, Liebe. Auf einer Bank nahe der Brücke setzt er sich, er legt seinen Arm um die Lehne und befühlt die leere Stelle neben sich. Sie bleibt kalt und stumm. Er muss lachen. Er lacht laut und ungehalten wie ein Kind, drückt sein Gesicht an das Holz, umschließt seinen Körper mit beiden Händen und wiegt sich, während sein Lachen langsam verebbt. Mit den Fingern fährt er noch einmal die Holzmaserung entlang, dann verwischt er das Bild seiner Frau. Kraftlos geworden versucht er sich aufzusetzen, wankt und kann sich gerade noch am Brückengeländer aufrecht halten. Wie damals. In der verwirrenden Hitze eines langen Schultages hatte ihm der Geschichtslehrer erklärt, dass auf dieser Uferseite Kaiser Ferdinand erschossen worden war. Als kleiner Junge hatte er die in Lehm gegossenen Fußabdrücke des Attentäters gesehen, aber nicht verstanden, wie sich das Wort Krieg anfühlt. Krieg, ihn durchfährt es, er taumelt erneut – er stürzt. Auf dem Boden liegend fährt er mit der Hand über die Pflastersteine. Sie sind hell und neu wie der Friede in seinem Land. Hier ist kein Ort für mich, der Mann erhebt sich mit letzter Kraft. Auf der anderen Seite wird morgen die Sonne aufgehen, hier ist Gestern. Er tastet sich näher an das Brückengeländer heran, im Wasser treibt sein wehmütiges Spiegelbild an ihm vorbei. Es wird kein Morgen geben.

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