Gerhard Reule – Die Elenden, Mrs. Kingsford & Herr Goldschmdt

Gerhard Reule

 

Ausschnitt aus dem Roman Die Elenden, Mrs. Kingsford & Herr Goldschmdt

ISBN 978-3-8334-6903-9

 

Die Personen:

 

Anna Kingsford (1846-1888), die von ihrem älteren Freund Maitland liebevoll Mary genannt wird.

Edward Maitland, der von Mary liebevoll Caro genannt wird.

Arthur Goldschmidt, der Biograf Marys, der in unserer Zeit lebt.

 

 

 

Caro macht im Hintergrund des Raumes wieder seine Kniebeugen und greift prüfend ans Herz. Die Nonne bewegt leise die Lippen. Das Pendel schwingt, das Stramonium stinkt, das Kaminfeuer, das die ganze Nacht hindurch unterhalten wird, hüllt sie in einen Mantel aus rauchig duftender Luft. Mary lauscht in sich hinein, ob nicht ihre eigene Grausamkeit sie so empfindlich sein läßt. Dann hustet sie mehrere Minuten lang. Caro und die Nonne stehen wie Zinnsoldaten zu beiden Seiten des Rollstuhls und stützen ihren nach vorne gebeugten Oberkörper.

Goldschmidt fragt sie das, als er in seiner mühseligen Übersetzung an diese Stelle kommt. Sie sprechen Englisch miteinander. Er stellt sich ihr höflich mit seinem Namen vor als jemand, der über ihr Leben Nachforschungen anstellt und fragt sie: „Glauben Sie nicht, daß Sie deshalb so empfindlich (oder wie manche sagen: fanatisch) sind, weil Sie Ihre eigene Grausamkeit, Sie wissen schon: die Fuchsjagden, verdrängt haben?“

Sie erschrickt nicht. „Endlich stellen Sie sich vor!“ sagt sie. „Das hat lang genug gedauert.“

Caro geht zum Fenster und schiebt es hoch. Die Vorhänge bauschen sich in einem kalten, nebeligen Luftstrom auf. Von unten hört man Pferdegetrappel. Die Pendüle schwingt gleichgültig weiter, hin, her, hin, her. Goldschmidt erblickt in einem viereckeigen Standspiegel, der schräggestellt vor einer Zimmerecke steht, während er dürr wie trockenes Laub unter der Zimmerdecke schwebt, ihr Gesicht. Sie sieht im Spiegel das seine. Sie hält ihn für eine Vision.

Aber selbst wenn dem so ist“, antwortet sie, „ich bin eine, die sich an den Elenden infiziert hat wie an einer Krankheit, die ihr elendes Leiden bekam und die seiner Ursache, nämlich der Grausamkeit, deshalb nicht mehr erliegen wird. Meine Abwehr ist auf dem Posten. Der Portier im Naturgeschichtlichen Museum hatte einfach kein Gefühl. Höchstens für sich selbst und seine eigene Brut. Damals im Naturhistorischen Museum, das Gesicht in die Hände vergraben und mit Tränen in den Augen, betete ich um die Stärke und um den Mut, den Tieren zu helfen. Können Sie das nicht verstehen?“

 

Natürlich hatte sie als Studentin nicht viel zu sagen, aber sie ging ihren Professoren gehörig auf die Nerven. Damals nannte man jeden Assistenzarzt, der unterrichtete, und sogar jeden popeligen studentischen Tutor „Professor“. Sie erlaubte ihnen nicht, in ihren Unterrichtsstunden grausame Experimente durchzuführen. Sie zeterte so lange, bis sie nachgaben. Einen von ihnen, einen gewissen Dr. Lenoir, der im Januar 1888, da Mary sich die Lunge aus dem Leib keucht, schon längst ein bekannter Experimentator geworden ist, fragte sie: „Bitte, weiß Ihre Frau, wie Sie sich in diesem Laboratorium betätigen?“

Mary kannte seine Frau. Sie war jung, charmant und vor allem unschuldig. Wäre ihr Mann ein Meuchelmörder gewesen, hätte sie das auch nicht schlimmer geschockt als das, was er in den Laboratorien trieb. Er schaute Mary überrascht an, und aus seinem Gesicht schoben sich Flintenläufe. Doch gleich verschwanden sie wieder. Schließlich antwortete er ehrlich: „Ich würde sie das um nichts auf der Welt wissen lassen.“

Marys nächster Angriff beendete den Kontakt. Sie gab ihm eine Kopie des Pamphlets De la Ligue contre la Vivisection, ohne allerdings zu sagen, daß sie daran mitgeschrieben hatte. Er resignierte und schickte sie höflich zu den Kollegen.

 

Einmal hatte sie einen echten Professor erlebt, der einen seiner Prüflinge getadelt hat. Der Student nannte den Tierversuch „ein probates Mittel, um die Wirkung von Giften und anderen Drogen zu testen“. „Dann, Monsieur“, antwortete der Professor scharf (berichtete sie ihrem Freund Maitland, und der schrieb es wie alles andere auf), „würden Sie eine Methode anwenden, die sich nur für eitle und ungenaue Forscher eignet.“

An einem anderen Tag erwähnte einer ihrer Kommilitonen ein Experiment des bekannten Professor Majendie, das bewiesen haben wollte, daß sich der Magen beim Speien nicht kontraktiert.

Goldschmidts Magen zieht sich während der Übersetzung zu einem Knoten zusammen.

Majendie hatte einem Hund den Magen herausgenommen und durch eine tote Schweinsblase, die mit allerlei Futter gefüllt war, ersetzt. Dann injizierte ihm Majendie ein Brechmittel, so daß der Hund kotzen mußte. Weil sich in dem Experiment die tote Blase nicht zusammenzog, schloß Majendie, daß das auch für den lebendigen Magen gilt. Das war lange die Lehrmeinung gewesen, war aber kürzlich erst durch einen anderen Tierversuch widerlegt worden. Jetzt gab dieser Professor diesem Studenten einen zweifachen Verweis. Erstens, weil er fachlich nicht auf dem Laufenden war, zweitens, weil er seine Schlüsse auf Tierversuche gründete.

Mary baute auf Professoren wie diesen und auf die Diskrepanz zwischen Doktrin und Praxis. Goldschmidt klappt das Buch zusammen und macht eine Pause. Er geht dazu an die frische Luft.

 

Sie diskutierte mit Maitland darüber, und er schlug ihr vor, diese Frage direkt an ihren Klinikchef zu richten. Sie scheute aber davor zurück, denn das wäre eine Unerhörtheit gewesen. Etwa so, schrieb Maitland, als würde ein Leichtmatrose bei seinem Großadmiral auf dem Achterdeck eine Zigarette schnorren. Aber Caro erinnerte sie daran, daß sie kein gewöhnlicher Student war. Sie war Ausländerin und hatte deshalb einen Sonderstatus. Außerdem war sie Engländerin und hatte von daher ein gewisses natürliches Recht darauf, spleenig zu sein. Schließlich war sie eine Frau, eine schöne Frau sogar, wie Caro und viele andere bemerkten, eine junge, schöne, blonde Frau mit veilchenblauen Augen, und als solche konnte sie vielleicht das Konkurrenzdenken ihres Chefs unterlaufen. Der nämlich schien ihr immer wohlgesonnen gewesen zu sein. Also legte sie sich eine Frage zurecht, übte sie mehrmals vor dem Spiegel, damit die Formulierung saß, wartete eine günstige Gelegenheit ab, nahm allen ihren Mut zusammen und fragte: „Warum hält man an der Vivisektion fest, obwohl man sie methodisch als unwissenschaftlich betrachtet und die Schlüsse daraus teilweise als unzuverlässig zurückweist?“

Ihr Chef antwortete mit äußerster Güte, sie solle ihn nach dem Kurs daran erinnern, dann würde er dazu Stellung nehmen.

Nachdem sie alle Patienten besucht hatten, wandte er sich von sich aus den vielen Studenten zu. Ihm sei eine Frage nach dem Nutzen der Vivisektion gestellt worden, und er wolle sie beantworten, sagte er.

Wenn ich für mich selbst und für meine Kollegen hier an der Faculté spreche, meine ich nicht, daß wir behaupten können, daß diese Forschungsmethode viel praktischen Nutzen für die Medizin hat“, sagte er. „Wir erwarten das auch nicht. Aber der Tierversuch ist notwendig als Protest für die Unabhängigkeit der Wissenschaft und gegen die Einmischungen von Seiten der Kleriker und Moralisten. Wenn alle Welt den hohen intellektuellen Status Frankreichs erreicht haben wird, und niemand mehr an Gott, die Seele, an moralische Verantwortung oder sonst einen Unsinn dieser Art glaubt, sondern vielmehr den Nutzen, den man hat, als einziges ethisches Kriterium gelten läßt, dann und erst dann kann die Wissenschaft auf die Vivisektion verzichten.“

Das war 1875.

 

 

Ein anderer Professor sprach über die schädigende Dosis von Giften bei Menschen. Das Lehrbuch, auf das er verwies, konnte da genaue Angaben machen. Auch über die Art der Schäden konnte es genaue Auskunft geben. Im Register las Mary, daß der Autor Arzt in einem Heim für Findlingskinder war. Er hatte seine Experimente an den Kindern durchgeführt. Der Professor, darauf angesprochen, rief bloß aus: „Glücklicher Bursche! Er hat seine Modelle umsonst gekriegt, und noch dazu menschliche! Ich gäb was für solch eine Chance!“

Professor Charles Richet, ein Schüler Claude Bernards und Louis Pasteurs, aus dessen Hand Mary ihre Approbationsurkunde erhielt, bereicherte die Welt mit dem Wissen, daß ein durchschnittliches Pferd dreiundreißig Tage ohne Nahrung leben kann, während ein durchschnittlicher Hund schon nach einundzwanzig Tagen verhungert. Andere Tiere haben wieder andere Verhungerungszeiten. Chales Richet hat fast dreißig verschiedene Tierarten verhungern lassen, um diese Kenntnisse zu gewinnen.

Mary bohrt ihren Blick am Spiegel geprellt in den Goldschmidts. Beider Blicke fragen das gleiche: Kann das gut gehen?

Daß das nicht gut gehen würde, prophezeite ihr ein Traum, den sie im Jahre 1875 hatte.

 

Es schien mir, als wären Caro und ich in Gesellschaft von vielen Frauen und Männern gewesen, über die alle, mit Ausnahme von mir selbst, das Todesurteil verhängt worden war. Alle wußten es. Grund für das Urteil war die Verbindung zu einem Regime, das Zerstörung und Tod brachte. Alle wußten auch, daß das Urteil in großem Maßstab, also für alle zur gleichen Zeit vollstreckt werden würde. Aber niemand wußte wann und durch wen und wie. Dann befanden wir uns alle in einem Zug, der in einer dunklen, sternlosen Nacht einem unbekannten Ziel entgegenstampfte. Ich saß auf einer Eckbank im letzten Waggon des Zugs und lehnte mich aus dem Fenster, als aus der schwarzen Luft eine Stimme langsam, ernst und deutlich zu mir sprach. Sie machte mir eine Mitteilung, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Sie sagte:

Das Urteil wird genau jetzt vollstreckt. Ihr seid alle verloren. Der Zug nähert sich einer mönströsen Klippe, die steil in die schäumende See abfällt. Das Gleis endet mit dem Abgrund. Der Zug wird ins bodenlose Nichts stürzen. Niemand ist in der Lokomotive, um sie zu führen.“

Sofort sprang ich auf, aber kein Mensch außer mir hatte diese Worte gehört. Das Lampenlicht flackerte von der gewölbten Waggondecke auf die Formen vor mir. Keiner war alarmiert. Die Leute waren ahnungslos.

Es gibt nur eine Möglichkeit, gerettet zu werden. Du mußt abspringen!“

In panischer Hast stieß ich die Waggontür auf und gelangte aufs Trittbrett. Der Zug raste und schwankte hin und her und der mächtige Fahrtwind schlug mir die Haare ins Gesicht und blies meine Kleidung auf. Bis dahin hatte ich nicht an Caro gedacht. Ich tastete mich auf dem Trittbrett Schritt für Schritt voran, in der Hoffnung, eine günstige Stelle für den Absprung zu finden. Hand über Hand gelegt gelangte ich langsam von Waggon zu Waggon. Im Lampenlicht im Innern sah ich wieder, daß keiner der Passagiere eine Ahnung von der nahenden Katastrophe hatte. Endlich sah ich Caro. „Komm raus!“ schrie ich. „Rette dein Leben! In einer Minute zerschellen wir in Stücke!“

Caro erhob sich sofort, stieß die Tür auf und kam zu mir aufs Trittbrett. Der Zug raste immer schneller. Er rumpelte durch die Nacht. „Spring ab!“ schrie ich. „Der Zug rast auf einen Abgrund zu, und niemand ist in der Lokomotive!“ Doch Caro drehte mir nur den Kopf zu und sagte: „Werden wir nicht tun. Wir stoppen den Zug.“

Mit diesen Worten verließ mich Caro und kroch auf dem Trittbrett zur Zugspitze. Wütend, weil ich das für eine schlechte Idee hielt, und zitternd vor Angst folgte ich ihm. Endlich erreichten wir den ersten Waggon und im gespenstischen Licht des Heizkessels sahen wir, daß stimmte, was die Stimme gesagt hatte: Da war niemand in der Lokomotive, um sie zu führen.

Caro kroch vorwärts. Dann kniete er auf dem Trittbrett nieder und gab zu, daß es so nicht getan werden konnte. Die Maschine war nicht anzuhalten. „Aber wir können den Zug retten!“ schrie er mit einem Mal. „Hilf mir, diese Eisen auseinander zu kriegen!“

Die Lok war mit dem Zug mittels zwei großer Eisenhaken und Krampen verbunden. Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung, bei der ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte, gelang es uns, die Lok vom Zug zu trennen. Die Lok raste Flammen und Funken sprühend wie ein urzeitliches Ungeheuer davon in die Dunkelheit. Wir standen auf unseren Trittbrettern und beobachteten schweigend, wie der Zug ausrollte.

 

Die Bedeutung des Traums war ihr gleich klar. Lediglich die führerlose Lokomotive bereitete ihr noch Kopfzerbrechen.

Warum ist sie führerlos?“

Nun ja“, sagte Caro, „sie ist geistlos. Sie symbolisiert den Materialismus.“

Goldschmidt notiert zwei Jahreszahlen, 1914 und 1939, und ein Fragezeichen. Und dann geht er aufs Klo.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert