Vor vielen Jahren wuchs aus einem Löwenzahnsamen ein Baum. Er war anders, als die anderen Bäume, weder Eiche noch Pinie, weder Pappel noch Weide, und schon gar nicht war er ein Apfel- oder Birnbaum. Die letzteren benahmen sich alle etwas eingebildet, denn sie wurden von Gärtnern aus dem nahegelegenen Dorf gehätschelt und gepflegt, und im Herbst trugen sie reichlich Früchte. Wohlschmeckende, pralle Früchte, an denen sich zahllose Menschen erfreuten. In der Mittagshitze, wenn die Dorfbewohner schliefen, kamen auch die Vögel und pickten in die Äpfel und Birnen, und nachts fraßen die Schafe, was auf den Boden gefallen war. Das Bäumchen, das so sonderbar war, stand in keinem Garten, sondern auf einer morastigen Wiese, und die wenigen Früchte, die es im Herbst zu Boden fallen ließ, schmeckten bitter. Diejenigen Menschen, die sich auf die Wiese verirrten und die Früchte probierten, spuckten sie gleich wieder aus, und sie nannten den Baum deshalb Speiling. Nur einige Wildschweine, die sich aus dem nahegelegen Wald auf die morastige Wiese wagten, fraßen, was er fallen ließ.
Als der Speiling in die Jahre kam, wurden sein Stamm und seine Äste dick und knorrig, und Früchte trug er immer weniger und schließlich gar keine mehr. Deshalb besuchte ihn auch kein Wildschwein mehr. Höchstens ließen sich hie und da einige Vögel in seinem Geäst nieder, und einmal kroch eine grüne Schlange den Stamm hoch und blieb einen ganzen Tag lang meist zusammengerollt in einer Astgrube liegen. Sie war klein und hatte einen Kopf wie ein Bohrer. Der Baum klagte ihr sein Leid: „Das Leben, das ich noch leben könnte, sollte ich leben, und das Denken, das ich noch denken könnte, sollte ich denken. Aber ich sehe dieses Leben und dieses Denken nicht.“
Sie aber zischelte: „Wer mit seinem Nichtkönnen leben lernt, hat viel gelernt.“ Dabei kitzelte sie ihn mit ihrer gespaltenen Zunge in einem Astloch, was ihn erregte und an schönere Zeiten erinnerte.
Der sonderbare Baum war ziemlich intellektuell und dachte bei sich: Wenn ich schon die seltene Gelegenheit habe, den Teufel zu sprechen, dann sollte ich die nutzen. Ich sollte mich ernsthaft mit ihm auseinandersetzten, denn schließlich ist er ja mein Teufel. Er ist als Widersacher mein eigener anderer Standpunkt, aber kann ich ihm trauen? Ich soll nicht zu ihm übergehen, sonst werde ich des Teufels. Aber ich sollte mich mit ihm verständigen. Dadurch nähme ich mich meines anderen Standpunktes an. Damit verliert er etwas an Boden und ich auch.“
Und so löste der Baum vorsichtig seine Wurzeln in der Absicht, mit dem Teufel zu tanzen. Aber er kam nur drei Schritte weit und krallte sich schon wieder im Erdreich fest.
„Das tut dir not“, sprach die Schlange, die fast vom Ast gefallen wäre, „deine natürlichen Grenzen zu kennen. Wenn du sie nicht kennst, bewegst du dich in den künstlichen Schranken deiner Einbildung und der Erwartungen deiner Mitmenschen. So wie diese Obstbäume da drüben. Dein Leben aber erträgt es schlecht, von künstlichen Schranken aufgehalten zu werden.“
„Aber ich bin doch nur ein Baum!“, schrie der Speiling so laut, dass ein Hase in der Nähe Reißaus nahm und hakenschlagend davonrannte. „Was macht es für einen Unterschied, welcher Art die Grenzen sind, die mich aufhalten? Bin ich nicht immer an denselben Ort gebunden? Bin ich etwa besser dran als die da drüben? Die werden wenigstens gedüngt, und ihre Früchte bringen ihnen Preise ein. Ich kann mich höchstens im Winde wiegen.“
„Psssst“, zischte die Schlange. „Du denkst zu viel!“ Und schon versöhnlicher: „Sie werden auch geschnitten, mit Gift besprüht, gepfropft, und ihre Früchte werden ihnen geraubt. Es stimmt schon, du bist ein recht nutzloser Baum, und du denkst still, einfältig und arg bäumisch, und viel von der Welt siehst du auch nicht. Das ist deine Beschränkung. Was den Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Grenzen angeht, Zufriedenheit kannst du nur innerhalb deiner Natur finden, und die ist mitunter erschreckend! Äpfel jedenfalls wirst du nie tragen!“ Und mit einem Schwenk des bohrerartigen kleinen Kopfes zur Stadt hin, deren Türme am Horizont sichtbar waren, fuhr sie fort: „Lass uns leiser sein, wir wollen ja keine Aufmerksamkeit erregen, dort wohnen die Aufgeklärten, die die Leute zur Vernunft erziehen wollen. Sie lauschen mit Apparaten in den Äther und könnten uns hören. Sie sind eigentlich gefährlich, denn sie kochen die allerstärksten Gifte, vor denen sogar ich mich hüten muss. Sie sind nahezu gelähmt, und ihre Stadt ist in einen Giftdampf gehüllt. Als Lahme sind sie ruhelos und schlucken Pillen, um zur Ruhe zu kommen, und dann wieder welche, um agil zu werden, und sie bewegen sich nur noch mit künstlichen Maschinen oder virtuell.“ Und erneut an ihren Wirt gewandt säuselte sie ermunternd: „So bist du nicht. Trotzdem, denk nicht so viel!“
„Es ist schwierig, vernunftlos zu sein“, seufzte der Baum.
„Genauso schwierig ist die Magie“, antwortete die Schlange. „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass es magische Praktiken gibt, die man lernen kann. Die Magie kann man nicht verstehen. Die Magie ist gefährlich, denn das Unvernunftgemäße verwirrt und zieht an und wirkt, und man ist schnell sein Opfer. Wir bedürfen aber der Magie, um den Boten und die Botschaften des Nichtverstehbaren empfangen oder anrufen zu können. Und was deine Vernunft angeht, es ist damit nicht so weit her, wie du vielleicht denkst. Du bist alt, und mit dem Alter nimmt die Vernunft von selber ab, denn sie ist ein nützliches Gegenstück der Triebe, die in der Jugend auch viel heftiger sind als im Alter.“
Nach diesen Worten kitzelte das kleine Biest den alten Baum wieder in seinem Astloch, ziemlich lang diesmal, kroch den Stamm hinunter und verschwand im Gras.
Mit der Zeit wurde der Speiling einsam und traurig. So verbrachte er fortan Jahr um Jahr alleine, und seine Erinnerung klebte an dem, was er zuletzt erlebt hatte. Aber auch die Erinnerung an die Erregung, die er beim Kitzeln im Astloch empfand, verblasste und verschwand. Selbst das letzte, das ihm die Schlange zugeflüstert hatte, und an dem er sich lange festgehalten hatte, verlor seinen Sinn: „Die Gemeinschaft gibt uns Wärme, das Alleinsein gibt uns das Licht.“
Die Jahre vergingen nunmehr schnell, und schließlich starb er. Er starb aber nicht einfach ab. Während eines nächtlichen Gewittersturms spaltete ein Blitzschlag den alten Stamm mitten entzwei. Die beiden Hälften kippten zur Seite wie Holzscheite, aber in Flammen gingen sie nicht auf. Am nächsten Morgen, als die Sonne wieder schien und die Luft klar war, machte sich ein Bauer auf den Weg, Brennholz zu sammeln. Er kam auch zu dem gespaltenen Speiling. Aber als er nähertrat, sah er, dass sich unter der Rinde statt des Holzes eine weiche, weiße, gallertige Substanz befand. Angewidert spuckte er zu Boden und dachte bei sich: Früchte hast du schon keine getragen, aber jetzt taugst du nicht einmal für Brennholz! Verärgert stapfte er weiter über die matschige Wiese zum Wald hin. Einige Stunden später – es war um die Mittagszeit – sah ein Junge aus dem Dorfe, der gerade seine Ziegen hütete, dort wo der Baum gestanden hatte etwas Ungewöhnliches. Der Junge fühlte sich magisch angezogen und kam näher. In der Tat befand sich unter der Rinde des gespaltenen Baumes ein weiches Mark. Inzwischen hatte es die warme orangene Farbe einer reifen Papaya angenommen. Instinktiv klappte der Hirtenjunge sein Taschenmesser auf, schnitt ein Schnitzel davon ab und kostete. Was für ein köstlicher Geschmack! Der Junge lief zurück ins Dorf, erzählte davon, und nun kamen sie alle, Alt und Jung, Männer, Frauen und Kinder. Sie kratzten zunächst mit ihren Fingernägeln, Löffeln und Messern nur ein wenig zum Kosten aus dem Mark des Baumes und aßen sich schließlich daran satt. Soviel sie auch gegessen haben mochten, das köstliche Fruchtfleisch war am Ende nur angenagt. Deshalb kamen nach ihnen auch die Wildschweine wieder und viele andere Tiere und fraßen und schmatzten und meckerten, blökten, grunzten, wieherten, muhten und furzten zufrieden ihre Anerkennung der köstlichen Frucht in die frische Luft, … und nichts blieb übrig. Deshalb – so leid es mir tut – geht ihr leer aus.