Juliano Gerber – Wer zu spät kommt, muß heim laufen

Öffentliche Verkehrsmittel sind was für unerschrockene Menschen, denn Zusehen-Können ist eine Gabe, wie Klavier-Spielen oder einen richtigen Tatar zuzubereiten. Hier treffen sich alle, die aus Pflicht oder freien Stücken dieselben Ziele haben. So konnte Mary beobachten, wie ein junger Nerd, vielleicht um die sechzehn Jahre, seinem Schicksal ergeben den Knicks erwies und wartete, bis alles weitere aus dem Zauberhut des Lebens hinaus geprustet bald auf ihn einwirken sollte. Der junge Nerd, eher unsortiert gekleidet, zweckmäßig in Bluejeans und Polo-Shirt, strahlte die Eleganz eines Jungen aus, der um Himmels Willen nicht auffallen will. Selbst seine Chucks wirkten nicht allzu neu, aber auch nicht wirklich gebraucht, die Jeans, wie Mary bemerkte, ging unten eher spitz zu, was auf ein älteres Model hinwies, vielleicht ein Überbleibsel seines älteren Bruders oder ein Markenschnäppchen von der Kaufhausstange. So saß er da und hielt eine Laptoptasche auf seinem Schoß und schaute hin und wieder auf die Anzeigetafel, welche die Ankunft der Bahn noch für sieben Minuten in die Zukunft verschob.

Mary saß auf der anderen Seite der Schienen und überlegte, ob sie nicht doch das Fahrrad nehmen sollte, da ihre Bahn noch über zehn Minuten brauchte. Die Strecke, die sie zurücklegen wollte, war mit dem Fahrrad in längstens acht Minuten zurückzulegen, allerdings hatte sie kein Licht und so gar keine Lust, das Rad zu benutzen. Sie steckte sich eine Zigarette an und blickte kurz auf ihr Handy. Die  Sms-Anzeige zeigte jetzt schon seit über zwei Stunden eine Sms, welcher sie den Absender entnehmen konnte, weshalb ihr aber richtig angst und bange war und sie sie daher noch nicht geöffnet hatte. Ihre Beziehungen waren bisher eher von der Spontaneität und Leidenschaft geprägt gewesen, jetzt hatte sie eine Beziehung, deren Attribute eher mit Beharrlichkeit und Verständnis einhergingen. Es war fade mit ihr und Moritz geworden. Gedankenverloren sagte sie sich: „Mary und Moritz, wenn sich das nicht nach einem waschechten schlechten Witz anhört, dann weiß ich auch nicht.“

Sie lächelte eher aus Bitterkeit als aus Freude über die Ironie der Namen, lehnte sich zurück und blies Rauchringe in die Luft, als sie sich plötzlich fast verschluckte.

Auf der sonst menschenleeren Straße schritt ein eher untersetztes Mädchen auf die Haltestelle zu, geschminkt war sie auf 21, allerdings war sie so um die fünfzehn vielleicht, ihre Fashion mutierte zwischen Bordsteinschwalbe und einer Tänzerin aus klischeebehafteten deutschen Hip-Hop Videos. Sie hatte ein rotes Handy am Ohr, woraus ein Bändchen mit Strasssteinen besetzt unaufhörlich blinkte, sie schrie fast ins Telefon, und nach jedem Satzfetzen fügte sie mit noch mehr Phon den Nebensatz „die dumme Nutte, he!“ hinzu.

Mary liebte solche Auftritte – die Möglichkeit, sich einfach mal zu entspannen und zuzusehen, wie andere Mädchen heutzutage teilweise sind. Die ungehobelte Sprache, die skandalös ordinäre Kleidung, der ganze Style, den sie niemals anzuziehen wagen würde. Auf einmal muss wohl die Verbindung abgebrochen sein, denn das Mädchen schrie aus Leibeskräften Hallo, hallo, hallooo! in das Handymikrophon und fuchtelte dabei mit ihren Armen. Ihre Tasche baumelte elastisch, was die Flasche Chianti mit Plastikkronkorken noch verstärkte.

Derart versunken hörte sie das Mädchen einen Aufschrei von sich geben, ihr Bauchnabelpiercing hatte wohl ihr Oberteil eingerissen, und so warf sie alles auf den Nerd, der seit ihrem Erscheinen nur noch kreideblass an der Ecke des Wartehäuschens saß und die bedeutungsschwangere Katastrophe möglicherweise mit seinem Leben verbunden sah. Was natürlich stimmte, doch er hoffte noch auf Erbarmen, Erbarmen, das nicht kam. Sie musterte den Schaden und brannte vor Wut. Dabei sah sie den Nerd das erste Mal, ihre Miene verzog sich, und einen Augenblick lang schien sie nachzudenken, und dann nahmen die Dinge ihren Lauf. „He“, raunte sie den Nerd an und lief auf ihn zu, „mir isch das Piercing zu blöde, das isch das zweite Mal jetzt, das Oberteil hat 34 € bei Pimkie gekoschtet, es war runter gesetzt, weisch!“

Der Nerd nickte nur etwas versteinert und sagte: „Ich verstehe, ich verstehe.“

Du, kannsch mir das Piercing abmache? Die Nadiin, hätt mir gerad die Nägel gmacht, ich kann da jetzt net rumfummle.“

Der Nerd war völlig von der Rolle und stammelte irgendwas, worauf sie überhaupt nicht hörte, sich ihm aber weiter annäherte, indem sie das Oberteil  fast auf ihre Brust hochzog. Sie war braungebrannt und hatte einen sehenswerten flachen Bauch. So stand sie vor ihm – eine Handbreit war ihr Piercing von seiner Nase entfernt -, da sagte sie: „Los!“

Er löste die Verankerung seiner Arme und drehte sich, so dass ihr Bauch zum Licht zeigte, und sie beide jetzt seitlich zu Mary standen, welche sich in der Ecke unsichtbar gemacht hatte, um das Spektakel noch intimer zu erleben. Sie sahen sie nicht. Als der Nerd seine Hände in die Höhe nahm, schrie sie auf: „He, hascht Du saubere Pfote?“

Er zeigte sie ihr  in voller Ergebenheit, im Wissen und in der Angst, dass die Ablehnung ihrer Wünsche vielleicht mit zielgerichteten Hieben enden konnte. Dann sah er auf ihren Bauch, sah auf ihre schönen Beckenknochen und die Form, welche wohl dort endete, wo er gedanklich vielleicht schon oft war, doch so nah war er dorthin noch nie geraten. Er atmete tief ihren Duft ein und verschluckte sich fast, als sie ihn an der Schulter fasste und sagte: „Du, gibscht mir mal die Flasche, ich hab ein trockenes Maul, nee, musch sie uff mache, ich kann doch nicht.“

Er wandte sein Gesicht von ihrem perfekten Bauch ab und reichte ihr die geöffnete Flasche, sie stürzte erstmal einen großen Schluck hinunter und wischte sich den Mund mit dem braungebrannten Unterarm und sagte: „So jetzt!“

Seine Finger waren etwas zittrig und die Berührung ihrer Haut ließ ihn fast im 4/4 Takt trocken schlucken.

He, net fummle, uffmache hab´ich gsagt!“

Er rang um Fassung und war sichtlich erlöst, als die Verankerung endlich aufging. Sie befahl ihm, aus der Tasche eine Schatulle hervorzukramen und das Piercing hineinzulegen. Dann bog auch schon die Straßenbahn um die Ecke. Sie zeigte auf die Tasche und Flasche, er verräumte alles und gab es ihr an den angewinkelten Arm. Sie blickte sich um und sagte zu ihm, „bisch Kolleg, Mercy gell“, und stieg in die Bahn. Welche dann auch sogleich los ratterte. Der junge Nerd blieb zurück, und mit einer Miene zwischen Erleichterung und Erschöpfung stieß er ein Seufzen aus. Die zweite Bahn näherte sich hörbar der Biegung, und der junge Nerd machte Anstalten aufzustehen, dabei bemerkt er, dass er eine Erektion bekommen hatte, mit weit aufgerissenen Augen sackte er wieder auf die Bank. Die Bahn kam an, hielt, Leute stiegen aus und musterten ihn und zogen schon weiter. Die Bahn fuhr los, und er saß immer noch da. Nach einigen Augenblicken versuchte er vorsichtig, aber mit Nachdruck, mit der Hand die Erektion hinunterzudrücken , was ihm nicht gelang – seine Erregung war zu groß. Diesen schlichten und vollkommen wirkungslosen Versuch wagte er drei oder vier Mal, bis sich seine Miene völlig auflöste und er den Kopf hart an die Scheibe des Häuschens fallen ließ. Mary, die sah, wie der junge Nerd in seinen Hosen gekommen war, konnte nicht fassen, was sie da eben gesehen hatte. Benommen sammelte sich der Junge und stand schließlich doch auf, des nassen Flecks auf seiner Hose eingedenk nahm er seine Tasche vor seine Hüfte, lief etwas gebückt auf den Gehweg zu und verschwand aus Marys Blickfeld.

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