Verena Reiss – Brücken II

Es war ein grauer, regenverhangener Tag in einem Viertel, in das sich selten jemand wagte, der so weit her gereist war wie sie. Die Kälte steckte ihr in den Gliedern, sie war schweigsam, fast schien es, als hätte das ewig hoffnungslose Grau des Himmels ihre Worte erstickt.
Das Viertel war eines, über das man hier wenig sprach. Es passte nicht zur Lebensweise der Leute, sich über das Unveränderliche auszulassen. Wenn sie die Zahlen der Namenlosen, an Straßenecken erschossen, in den Zeitungen lasen, dann runzelten sie die tief zerfurchte Stirn und schwiegen. Doch wortlos zu sein war eine Kunst, die die Fremde nicht beherrschte. All das Erdrückende schweigend hinzunehmen – es war beinahe grausam.
Sie stand vor dem Tor einer Kirche und beobachtete die Menschen, die vereinzelt über den Platz huschten wie verdorrte Büsche, vom Wind über den Wüstenboden getragen. Ab und zu wurde der eine oder andere vom Geruch der Suppe angelockt. Dann kam er näher, erst misstrauisch, später schüchtern, und beobachtete mit großen Augen ihre weißen Hände an der Schöpfkelle.
Einer von ihnen war anders, sie erkannte das gleich. Er kam schleppend, langsam, eine dunkle Gestalt auf einen Stock gestützt. Lange stand er in sicherer Entfernung und beobachtete sie aus, so schien ihr, blitzenden Augen. Einmal winkte er herüber, der Schrecken fuhr durch ihre kalten Glieder.
Mühsam, mit schwerem Atem, kam er näher. Seine Augen flogen unruhig hin und her, ein innerer Widerstand schien ihn zu quälen, gerade so, als laufe er auf eine Mauer zu.
Mit einem Mal stand er vor ihr, hielt ein Messer in der Hand, rief ihr hektisch Unverständliches entgegen. Die Fremde verstand nicht, warum er sie bedrohte, sie sah nur, dass er keine Chance hatte. Bald lag er am Boden. Sein schmerzverzerrtes Gesicht, winselnde Worte in einer fremden Sprache, der Stock hilflos daneben. Sie stand über ihm, hörte seinen trockenen Husten, sah die verzweifelten Augen und plötzlich auch die Angst.
Sobald die anderen ihn losließen, lag er wehrlos. Sie kniete sich zu ihm, eine Schüssel Suppe in der Hand, sagte ihm, es sei alles in Ordnung. Seine Augen weiteten sich. Schließlich begann er zu essen, vergaß sein Messer, vergaß ihre weißen Hände und die Angst.
Eine Weile saßen sie dort, sie beobachtete, wie das Leben im Viertel seinen gewohnten Gang ging, wie sich die Menschen wieder verstreuten und wie der Regen weiter leise, aber stetig auf die Umgebung fiel.
Irgendwann begann er zu reden. Er erzählte, ohne sie anzusehen, ohne auf Fragen zu warten: Vor zwei Tagen war er überfallen worden und war seitdem umher gelaufen, mit einem schmerzenden Bein und diesem Hunger. Er war auf einer Brücke überfallen worden, er sagte, es habe eines Tages so kommen müssen. Die Brücken der Stadt, erzählte er, führten über vielbefahrene Straßen von einem Viertel ins nächste.
Er lebe in einem Viertel im Süden, wo die Baracken noch kleiner waren als hier. Ab und zu treibe es ihn aus dieser Enge heraus und er versuche sein Glück anderswo. Die Brücken waren der einzige Weg, voranzukommen. Jeder wüsste von den Gestalten, die einem dort bewaffnet auflauerten. Aber – zum ersten Mal sah er ihr in die Augen – man müsse für alles im Leben einen Preis bezahlen. Niemand, der hier lebte, beklagte sich darüber.
Bald ging er, er hatte nicht gewollt, dass sie ihm beim Aufstehen half. Am Tor drehte er sich noch einmal um und sah sie an, leicht fragend, so als könne er nicht verstehen, was eben geschehen war. Für die Fremde aber schien das Grau des Himmels seit diesem Tag greifbarer, und je mehr sie glaubte, es zu verstehen, desto mehr verschwand die Angst vor dem Unveränderlichen.

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