Ein freier Mensch mit freiem Willen ging durch die Welt. Er tat und machte, was ihm gefiel. In seiner Welt gab es Häuser, Pflanzen, Menschen und Tiere in einer unendlichen Zahl. Fast konnte er sehen, wie sich die Welt um ihn herum bewegte, dynamisch in alle Richtungen strebte. Er war ein Teil dieser Welt. Und auch wenn er oft gern innehielt, so ging er weiter, wenn die Welt drohte, ihn zu überholen. Dann bewegte er sich schnell mit den anderen. Sich mit ihnen und sich durch die anderen hindurch.
Wie ein bunter Rummelplatz war das Leben für Nicolaus Lona. Er konnte dieses Leben seit 32 Jahren in vollen Zügen genießen, denn er fühlte sich frei, in dem, was er tat. Er lebte und arbeitete in Rothenburg. Oft erfreute er sich am Kleinbürgertum, wenn es sich ihm mal wieder auf dem Marktplatz offenbarte.
Nicolaus genoss es, in Straßencafés zu sitzen und den Menschen hinterherzuschauen, sich ein Bild von jedem Einzelnen zu machen und sich eine Lebensgeschichte zu den Menschen auszudenken.
Sah er die Menschen, versuchte er ihre Psyche zu ergründen und eine Erklärung zu finden für den Gang, die Art zu reden, oder die Frisur, die sie tragen. Dieses Spiel spielt er schon, seit sein Vater mit weggebracht wurde. Seit da weiß er innerlich, wie sein Vater ist, er versteht ihn völlig, er kann sich tief in ihn hineinversetzen. Mag sein, dass Nicolaus ein Ideealist ist, doch lieben seine Ideen ihn. Das macht ihn sympathisch, denn er kann sich ein Bild von der Seele der anderen machen. Für ihn ist sein Vater zum Platz in seinem Herzen geworden.
Der Abschied von seinem Vater schickte ihn in eine ungewollte Freiheit. Ohne Maßstab, lebt seine Fantasie seitdem in völliger Freiheit. Er kann Geschichten erzählen, zu allem, was er sieht. Mit diesen Geschichten erfreut er seine Mitmenschen. Jeden Dienstag, im Rothenburger Büchermarkt, gibt er seine Geschichten den Menschen zum Besten.
Am Anfang kamen wenige, aber seit den letzten 9 Monaten ist der Laden immer schon voller Zuhörer, wenn er um zwanzig vor acht durch die Türe kommt. Die Menge summt und die gute Laune ist wie ein dicker Schwaden im ganzen Raum zu spüren. Dann setzt er sich hin und es wird still.
Er schlägt sein Buch auf und es wird noch stiller.
Er öffnet den Mund und man könnte eine Feder fallen hören.
Dann liest er vor, verschmilzt mit den Figuren, mit dem Buch, seine Stimme zittert, seine Augen weinen, sein Herz ist voller Gefühl und seine Gedanken schweifen in die Ferne.
Ein Punkt, ein Absatz.
Er macht eine Pause.
Er kann die Liebe des Vorgelesenen noch spüren, sein Herz glüht nach, er genießt den Moment und schaut nach oben. Schaut in das Publikum und all die Gesichter, die ihn erwartungsvoll anblicken. Er mustert einen nach dem anderen, keiner traut sich zu reden.
Nur SIE bleibt nicht verharrend sitzen, die träumt und formt mit ihren Lippen Worte. SIE schweift noch in der Ferne, ist noch nicht zurück.
Er schaut sie lange an, das ganze Publikum schaut sie mit der Zeit an und alle warten.
Als sie zurückkommt von ihrer Traumreise, treffen sich ihre Blicke. Ihre Augen fangen ihn, seine Brust scheint explodieren zu wollen. Er weiß nicht, was mit ihm geschieht. Dann legt sich das Feuer um sein Herz. Von diesem Moment an ist er fixiert.
Juliane wird seine Zukunft sein, Nicolaus wird Julianes Zukunft sein. Wie werden sich beide ansehen und verstehen, was der andere denkt! Sie werden zusammen im Café sitzen und er wird sie ansehen, ihr sagen, wie sehr er sie liebt. Sie werden beide tiefe Gespräche führen. Sie werden sich die Welt und ihre Bedürfnisse von den Lippen ablesen. Sie wird in ihm erkennen, dass es doch etwas Gutes in der Welt für sie gibt ‒ nämlich ihn.
Sie werden in einem Haus leben, von Kindern träumen, reisen, zusammen schlafen, einfach für einander da sein, bis das Alter sie in Würde nebeneinander in die Ewigkeit gehen lässt. Juliane wird sich immer glücklich und frei fühlen, Nicolaus wird immer verliebt sein. Und die Welt wird für ihn nur noch aus ihr bestehen!
Das alles realisiert er in diesem Moment.
Und erkennt! Sie wird ihm seine Freiheit nehmen und seine Liebe für die Welt. Sie wird nichts dafür können, aber er wird nur noch sie lieben können.
Deshalb nimmt er das Buch und liest weiter.