Stephanie Hoormann – Enttarnung

Schon der Geruch ist ganz eindeutig. Kein Leben mehr. Komisch, dass etwas, das so vielfältig riechen kann, dann, wenn es weg ist, fast immer gleich riecht.

Das Kinn ist spitz, die Haut wächsern weisslich, besonders um die Nase und den Mund. Die Augen stumpf, die Pupillen weit. Die knöcherne Kontur des Gesichtsschädels unter der Haut scheint beinahe durch. Die Prothese hält noch die wage Form aufrecht. Bleibt deswegen auch drin. Die Haut ist kalt, die Gelenke starr, die Totenflecken nur noch teilweise wegdrückbar.

Wer Angst vor dem Lebendig-Begraben-Werden hat, sollte zur Leichenschau ins Altenheim mitkommen. Der Tod ist mit allen Sinnen fassbar, fühlbar. Unbestreitbar in seiner Ruhe, Stille, Kühle, Starre.

Vor ein paar Stunden hat sie noch gesprochen oder zumindest gestöhnt. Wo ist das jetzt hin?

Glaube nicht an die Seele, die nicht an Materie gebunden ist. In solchen Augenblicken möchte ich daran glauben. Einfach so tun. Und ein Fenster aufmachen, damit sie herausfliegen kann. Weit weit weg, leicht – und hinauf. Die Uhr anhalten.

Kann nicht einfach mal Alles anhalten, inne halten, still stehen, erstarren, einfach mal ruhig sein, voller Ehrfucht?

Ich spreche die Dame mit ihrem Namen an. Oder die Materie ohne Seele.

„Jetzt haben Sie es geschafft; ich wünsche Ihnen alles Gute, da wo sie jetzt sind“. Komme mir dabei irgendwie falsch vor. Denn erstens: sie ist ja nicht mehr da. Ich rede somit nur für mich. Zweitens: Vielleicht wollte sie es auch gar nicht schaffen, sondern Es schaffte sie.

Doch irgendetwas Würdevolles, daran möchte ich mich klammern. Auch nur für mich. Gerade auch wegen der kalten Intimität der Leichenschau.

Gestern war sie noch da. Ein Unikum, einzigartig.

Was hat sie alles gesehen in ihrem Leben, was alles gehört und vor allem gefühlt, wovor hat sie Angst gehabt?

Was macht den einzelnen Menschen aus? Am Ende ist der Geruch meist der gleiche. Und die Bürokratie. Das Formelle. Fünf unterschiedlich gefärbte Din-A-4-Vordrucke. ein formeller und ein informeller Teil.

Diese Todesursachenstatistik ohne Obduktion ist doch wie Würfeln. Wer weiss schon, woran ein Mensch im Heim wirklich stirbt?…„Altersschwäche“ ist nicht erlaubt als Diagnose oder „kein Bock mehr“.

Ich möchte sie fragen: „woran sind Sie eigentlich erst jetzt gestorben, also warum haben Sie eigentlich so lange weitergemacht? Warum haben Sie nicht einfach viel früher aufgehört mit der Nahrungsaufnahme und Verwertung, einfach nicht mehr geatmet?

MIR fällt es manchmal schon schwer, mich zu motivieren. Es ist mir ungangenehm, das zuzugeben und ich befürchte, Sie würden mich auslachen, wären Sie noch am Leben, aber es ist so. Immer wieder. Raus. In die Welt. Entscheidungen fällen, Konsequenzen tragen…Brutalität und Gefühllosigkeit erleben; weinen; Angst haben…sich fremd zu fühlen und alleine…Diese Anstrengung…Und Sie haben es 104 Jahre geschafft. am Ende in einer völlig anderen Welt.“

Vielleicht war das der Grund weiterzumachen. Völliges Leben im Augenblick vermutlich. Keine Entscheidungen, keine Konsequenzen. Man sagt Demenz. EIN Begriff für all diese höchst individuellen Innenleben. Manchmal ist Sprache, sind Begrifflichkeiten einfach am Ende. Zu unpräzise. Gefühle und Empfindungen sind da viel wichtiger als Worte.

Sie hat oft hinter mir her gelacht oder mich beschimpft, wenn ich einfach nur zur Visite vorbei kam. Oder mich ignoriert. Selbstgespräche geführt. Ich kam mir dann immer fehl am Platz vor. Verunsichert. wie ein Heuchler. Irgendwie entlarvt. enttarnt. So wie in einem meiner Träume, der immer mal wiederkommt. In dem stellt sich heraus, dass ich mein Abitur eigentlich gar nicht geschafft hab und somit auch das Studium und der Arztberuf nicht anerkannt werden können. Mir wird somit jede Grundlage im Nachhinein entzogen.

Bei ihr hab ich meinen Job wirklich nicht mehr wie sonst gemacht, sondern ihr nur noch die Wange mal gestreichelt. Warum einer 103 jährigen den Blutdruck messen oder den Puls? Hat das eine Konsequenz? Tabletten neu zu verordnen, die sie eh nur ausspucken oder aspirieren würde?

Sie hatte 6 Kinder von einem Witwer versorgt, den sie spät selbst kinderlos heiratete. Sagten mir die Pfleger. Keiner mehr am Leben. Und sie nun auch weg.

Wo sind die alle? Gibt es einen Abdruck irgendwo? Kann man irgendwelche Spuren sichtbar machen?

Ist sie für irgendetwas oder irgendjemanden so etwas wie der Schmetterling für den Orkan gewesen? Leise verlasse ich das Zimmer. Denke unvermittelt an eine uralte Schildkröte. Voller Ehrfurcht. Würde am liebsten einfach aus der Zeit rausfallen – für einen Moment. Draussen kommt mir dann alles erstmal wie im Schnell-Vorlauf vor. Zu schnell. Irgendwann gleicht sich das Zeitempfinden wieder an.

Ich muss den Leichenschauschein ausfüllen. Mit Angabe der Uhrzeit. wieder die Zeit…

Die einzelnen teils durchschreibenden Unterlagen werden alle in unterschiedlich farbige Briefumschläge verpackt. Finde ich auch jedesmal absurd: das Gegenteil einer Wahl verpackt wie Wahlunterlagen. Ausserdem muss man höllisch aufpassen, dass man den informellen und den formellen Teil trennt, da die Schrift durchdrückt und man sonst wieder von Vorne anfangen kann…

Wer füllt meinen Schein mal aus? In welcher Zeit? denkt er dabei an die Mittagspause oder die Rechnung an die Hinterbliebenen? Denkt er überhaut? Gibt es überhaupt Hinterbliebene? oder nur einen rechtlichen Betreuer?

Beim Verlassen des Heims möchte ich nicht, dass die anderen das Formular in meiner Hand sehen. Vielleicht müssten sie sich dann fragen, wer der nächste ist in dieser Sackgasse…

Vor dem Heim. Draussen, atme. Noch lebe ich; noch etwas, was ich nicht verstehe. Mich irgendwie auch nie richtig dran gewöhne.

Mache einfach weiter. Schritt für Schritt, Augenblick für Augenblick, planlos. Das verbindet uns, die alte Dame und mich. Vielleicht bin ich ein Abdruck von ihr und sie von mir; denke ich. Zeitlos.

Und jeder Tag, an dem wir nicht sterben, ist offen. Und ja, funktionieren ist gut. Glücklichsein find ich persönlich besser. Da hab ich Bock drauf.

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