Verena Reiss – Heimatstraßen

Mit der Hand auf dem Koffergriff sitze ich eingepfercht zwischen Heimatstraßen.
Das immerwährende Problem mit diesen Heimatstraßen ist, dass sie so plötzlich sind. Da präsentieren sie sich, kaum hat man einmal nicht aufgepasst, wieder breit lächelnd mit einer Attitüde, als müsste man nun emotional auf sie reagieren.
Heimat“ – immer dieses hochtrabende Wort. Und nie stecken Überraschungen dahinter.
Deutschland ist Deutschland bleibt Deutschland, das wusste ich ja schon seit vorhin am Gepäckausgabeband, wo mich die deutsche Kleinlichkeit mit einem ordentlichen Tusch begrüßte.
So und so dürfe man nicht stehen, das sei doch ersichtlich, man behindere ja in einem unverschämten Ausmaß den anderen Passagieren den Blick auf ihre Gepäckstücke.
Da war er wieder, der geregelte Gang, und ließ sie achtlos zerschellen: Meine zerbrechliche Hoffnung, die Heimat würde mich gar verheißungsvoll empfangen.
Stattdessen die üblichen grauen Wolken. Die festbetonierten Heimatstraßen. Die unausweichliche Stetigkeit des Zuges, der mich nun weiter in den Süden befördert.
Allzu schwindelerregend sind meine Gedanken zwischen den missmutig dreinblickenen Fahrgästen auf ihren – ach, viel zu sauberen – Sitzpolstern.“
Zehn Jahre später. Sitze ich mit der Hand auf dem Koffergriff eingepfercht zwischen fremden Straßen.
Habe in meinem alten Koffer diesen Zettel aus meinem Tagebuch gefunden und herzlich gelacht. Mit Sicherheit wollen Sie wissen, wie die Geschichte ausging?
Ich stelle es mir heute so vor: Da saß ich in diesem Zug, jugendlich unzufrieden, mit einer – vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, fast niedlichen – Furcht vor der Enge der Heimat.
Als ich aber kurz vor der Ankunft die schwarzbetannten Wälder jenseits der Scheibe betrachtete, in greifbarer Nähe, da wurde ich schüchtern.
Und heute bin ich wieder unterwegs. Aber täuschen Sie sich nicht: Reisen in die Fremde unternehme ich inzwischen mit einer trittsicheren Ordentlichkeit.
Ich lasse mich herumführen im Gewusel der großen Städte, im bunten Alltagstreiben der anderen Länder, bin neugierig und verneige mich höflich vor exotischen Andersartigkeiten.
Doch ab und an bleibe ich stehen und atme zufrieden auf, wenn ich wieder den Geruch der Heimat vorbeiziehen fühle. Die Rückfahrtickets in meinem Gepäck sind mir stets treu geblieben.
Sie werden wohl verstanden haben: Die Fremde schätze ich sehr. Vor der deutschen Kleinlichkeit rümpfe ich manchmal noch immer die Nase.
Doch vor den Wäldern und Wiesen und Weinbergen der Heimat ziehe ich bis heute den Hut. Denn sie hat mir nichts geringeres gegeben als – mein Leben.

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