„Wie das niemals Formulierte in Form des Ich wiedergeben, das zu formulieren ich nie unternommen habe?“
Ich lasse die Worte mit einem so stechenden, so unverhohlen belustigten Beigeschmack über die Zunge rollen, dass die Attacke offensichtlich ist. Dabei lächle ich schief, aber durchaus gewinnend. Nachdem es mir so gelungen ist, meine Studenten wenigstens wachzurütteln oder aufzustören, blicke ich ironisch grinsend durch den Raum. Alle sind da außer Georg Andres, der Träger schimmernder Blümchenhosen, den ich vergrault habe.
„Dieser Satz von Edward Upward entstammt einem kläglichen Versuch automatischen Schreibens“, fahre ich fort, „ kläglich, da er gemogelt hat, und wurde von Christopher Isherwood der Nachwelt vermacht. Im Kontext seiner eigenen englischen Jugend in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts und zu welchem Zweck auch immer. Für das, was wir in den letzten Semestern vorhatten, könnte dieser Satz aber als Motto passen. Er verknotet entweder den Geist oder aber er weist auf die Zauberkraft des Wortes hin. Haben Sie die inzwischen entdeckt?“
Mit diesen Sätzen eröffne ich die fünfte Seminarsitzung des diesjährigen Sommersemesters und die hundertdreiundvierzigste meiner Veranstaltungsreihe über den Aufbau der Sprachwissenschaft, und stoße meine Zuhörer vor die schönen Köpfe. Und dennoch bleiben sie auch heute, wie sie immer blieben, denn sie wollen entweder einen Schein, oder aber sie spüren: Dieser geheimnisvollen Kraft habe ich mich im Grunde verschrieben.
Dies könnte Anlass für die eine oder andere Mythenbildung unter meinen Studenten sein. Groß ist meine Sorge aber nicht; denn über Menschen wie mich wird nicht viel geredet, und wenn, dann nur die nackte Wahrheit. Und die gibt nicht viel her. Ich gelte als langweilig und ansonsten freundlich distanziert. Auf keinen Fall werden Geschichten über mich extra erfunden.
Meine Eltern allerdings hielten sich zu ihrer eigenen Schande und zu meiner Scham nicht an diese Regel, denn als ich mich habilitiert hatte, wollten sie einen Heldensohn. Sie hatten behauptet, im zarten Alter von zwei Jahren, in dem ich mich mit Zweiwortsätzen der Art „Wauwau bös“ oder „Mama lieb“ geäußert habe, soll ich auch schon „Ich bin“ gesagt haben, allerdings so, als stünde ein Komma zwischen dem Ich und dem Bin, also „Ich, Bin“, weshalb ich beinahe den Kosenamen Bin erhalten hätte. Wenn ich mich recht erinnere, stand in meiner Kindheit im Bücherregal meiner Eltern ein Roman von Max Frisch mit dem Titel Bin oder die Reise nach Peking. Meine Mutter verwechselte mich in ihrer Erinnerung sogar mit Descartes und schwor bei allem, was ihr heilig war, ich hätte sogar „Ich denke, also bin ich!“ geplappert und dann gespuckt. Doch dieser Anekdote misstraue ich wie allem, an das ich mich nicht selbst erinnern kann. Wahrscheinlich war sie eine Lüge, um mich den Nachbarn gegenüber interessant zu machen. Tatsache ist vielmehr, dass ich keinesfalls etwas Besonderes bin oder gar sein möchte, sondern nur endlich pensioniert. Doch bis dahin fehlen mir noch zehn Jahre.
Noch bin ich Professor für Linguistik.
Ich heiße Albert Looser. In meiner Muttersprache, dem Deutschen, wird mein Name in einer raschen Folge des lateralen Konsonanten [l], der mit der umgebogenen Zungenspitze an den Alveolen gebildet wird, und bei dem die Luft zu beiden Seiten entweicht, des langen Vokals [o:] mit seiner Lippenrundung, des stimmlosen Zischlautes [s], den zwei drittel meiner Landsleute an den Alveolen und ein drittel an den unteren Schneidezähnen bilden, und des Vokals Schwa, der in etwa die Ruhestellung der Zunge einnimmt, ausgesprochen. Die Betonung liegt auf der ersten Silbe. In phonetischer Umschrift sieht das so aus: [΄lo:sə]. Während des Nationalsozialismus war das vielleicht anders. In welchem arithmetischen Verhältnis meine unmittelbaren Vorfahren den Zischlaut entweder oben an den Alveolen oder unten an den Schneidezähnen formten, weiß ich nicht mit Sicherheit, denn die meisten von ihnen waren gleichgeschaltet, und der Minderheit hatte es die Sprache verschlagen. Das Ergebnis war aber rein phonetisch betrachtet das gleiche. Heutzutage ist das Deutsche mit Anglizismen durchsetzt, und nicht wenige meiner Studenten sprechen meinen Namen zunächst einmal englisch aus. Vielleicht halten sie mich für unseren Gastprofessor aus Boston, den sie dann aber noch nicht gesehen haben können. Vielleicht inspiriert manche aber auch mein Vorname Albert dazu. Vielleicht denken sie an den Prinzgemahl der Königin Victoria. Dann wird daraus [΄lu:sə]. Und um die Dreistigkeit voll zu machen, schreiben einige meinen Namen (Ich habe die Lautebene verlassen und bin wieder bei der Schrift) mit nur einem o. Also Loser, was allerdings sowohl zur englischen, als auch zur deutschen Aussprache passt. Im Deutschen bedeutet das Wort nichts, aber im Englischen ist der Unterschied groß. So groß, dass er über Zufriedenheit oder Leid entscheidet. Entweder man lässt los, oder aber man verliert.
Das Wort Linguistik kommt vom lateinischen Wort lingua, was Sprache, aber zunächst die Zunge bedeutet. Dies hat seine Berechtigung. Mein akademisches Dasein geht von jeher mit einer von Durststrecken der Langeweile trocken gewordenen Zunge einher. Wie zur Kompensation, um die Dürre zu befeuchten und die Seele zu befruchten, beginnt von Zeit zu Zeit meine Nase zu bluten. Mein Nasenbluten ist in der ganzen Universität berühmt. Mein Spitzname ist deshalb „der Springbrunnen“. Andere sagen, ich hätte meine Tage. Ohne jegliche Warnung stürzt zu jeder erdenklichen Tageszeit das Blut aus meiner Nase. Meine Studenten kennen das schon. Keiner eilt mir mehr zu Hilfe, keiner legt besorgt die Stirn in Falten, keiner grinst mehr hämisch. Es ist immer dasselbe: Ich sitze an einem Resopaltisch, der mit anderen Resopaltischen im Karree angeordnet ist, und unter die zwischen zwanzig bis dreißig junge Männer und Frauen ihre langen Beine strecken, und ich blute. Es könnte der Eindruck entstehen, dass ich dauernd blute. Misst man jedoch die Zeit objektiv, blute ich meistens nicht.
Manche der Beine sind ausgesprochen schön, manche Höschen ausgesprochen kurz, weshalb ich gerne unter die Tische luge. Ich stelle fest, dass an diesem Nachmittag alle meine Stammhörer anwesend sind, von denen einige seit sechs Semestern zuverlässig wie mein Nasenbluten, aber berechenbarer, wiederkehren. Diese wenigen sind mir treu geblieben. Hinter mir ist die Tafel, an die ich nun herantrete. Ich drehe mich noch einmal kurz den Studenten zu, erinnere alle daran, dass ich mit diesem Hauptseminar meine Veranstaltungsreihe zu Ende bringen und deshalb das letzte Quäntchen meiner wertvollen Forschung offenbaren werde. Doch vorher wird repetiert.
„Wenn ich noch mal alles zusammenfasse…“
Ich lächele wieder schief und kritzele die Namen Harris und Saussure an die Tafel. Stefan Harms, mein Liebling mit den schönen, hellblauen Augen, gähnt hemmungslos wie ein Kater. Und als er bemerkt, dass ich ihn beobachte, grinst er vertraulich. Ich verzeihe es ihm, wie ich ihm das meiste verzeihe. Dies war der Strukturalismus, der Stoff des ersten Semesters. Leicht nach unten versetzt zeichne ich einen Phrasenstrukturbaum an die dunkelgrüne Tafelwand. Dies war Chomsky, der Stoff des zweiten Semesters. Ich schreibe die Namen Chomsky und Fillmore daneben. Im dritten kamen Austin und Searle und die ganze Pragmatik an die Reihe. Sie platziere ich unter Chomsky. Ich schreibe repräsentativ das Wort Sprechakttheorie unter den Strukturbaum und nuschele etwas von „Sie wissen schon, …und der ganze pragmatische Rattenschwanz, der daran hängt.“
Phonetische Transkriptionen bis zum Abwinken meine ich damit. Mein Gott, wie öde ist diese Wissenschaft, der ich drei Jahrzehnte meines Lebens geopfert habe!
Unter Searle kritzele ich den Namen Richard Montagues. Viertes oder fünftes Semester oder später. Ich drücke sosehr auf, dass die Kreide bricht. Dann drehe ich mich kurz um und erzähle beiläufig, dass man diesen unter mysteriösen Umständen tot in seiner Pariser Wohnung aufgefunden hat. Ich würde vermuten, man habe ihn umgebracht. Für seine scheußliche Grammatik, wie ich meine. Einige Studenten lachen. Stefan Harms mit seiner tiefen Stimme lacht am lautesten.
Da noch Platz ist, zeichne ich schmissig und windschief die Diagrammkästen des Logogen-Modells sowie des Garrett-Modells an die Tafel in Abgrenzung zu dem weniger bekannten Modell Levelts, mit dem ich die Studenten im letzten Winter traktiert habe. Das Logogen-Modell erklärt die Verarbeitung und Produktion von Wörtern, das Garrett-Modell bezieht sich auf Sätze. Eigentlich hätte ich ihnen die Videos von den aphasischen Patienten, an denen ich diese Modelle illustrierte, gar nicht zeigen dürfen, denn ich hatte nicht die Einwilligung der Patienten. Und als Krönung, als die Quinta Essentia wissenschaftlicher Alchemie, schlingere ich mit der Kreide eine Wellenlinie über den unteren Rand der ganzen Tafelfront und betone, dies sei nicht der Schluss, sondern der Schlüssel. Der Rest sei zweitrangig. Dies sei die eigentliche Struktur sprachlicher Bedeutungen, gleichgültig, ob die von Wörtern oder von Sätzen, wobei man für die letzteren natürlich eine Syntax brauche.
Im Grunde hatte mich Georg Andres mit seinen schimmernden Blümchenhosen darauf gebracht. Er fand die Seminare so lange interessant, so lange seine Bedürfnisse mitspielen durften. Er war es doch, der eine Wissenschaft mit Seele wollte. Er wollte die Seele in die Linguistik hineinpumpen wie Luft in einen Fahrradschlauch, aber ich habe ihn daran gehindert.
„Die Wissenschaft“, sagte ich, „ist nicht irrational.“
Beim nächsten Mal kam er statt in seiner schimmernden Blümchenhose in einem grauen Anzug mit Fischgrätenmuster ins Seminar.
„Sehen Sie!“, sagte er herausfordernd und deutete auf sein Jackett. „Ich passe mich an!“
Das Fischgrätenmuster wirkte nach. Ab da erst entdeckte ich in der Sprache etwas wirklich Interessantes, denn ich träumte in der folgenden Nacht davon, dass ich durch unzählige Mauern fiel, die ich in schneller Folge durchdrang, so dass die Mauern kein Hindernis darstellten, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern ein Frequenzmuster. Am Morgen erkannte ich die Bedeutung dieses Traumbildes in einem jähen Geistesblitz, der mit einem leichten Knall einherging. Dennoch nabelte ich Georg Andres wegen seiner religiösen Neigung ab.
Ich kann mir vorstellen, er verfluchte mich in seiner leidenschaftlichen, irrationalen Art, jedenfalls langweilt mich die Linguistik seither mehr denn je. Vielleicht langweilt sie mich aber auch, weil er mich auf einen besseren Geschmack gebracht hat. Georg Andres kam jedes Semester nur noch einmal, aber regelmäßig wieder, nämlich am allerletzten Seminartag, vermutlich, um zu überprüfen, ob ich immer noch den alten Stiefel fahre. Ich muss gestehen, dass ich mich über seine Ankunft immer freute.
Nun ja, ich musste vorsichtig sein. Mit Wellenlinien, die den Universalschlüssel hergeben können für alle möglichen theoretischen Probleme, hätte ich meine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel gesetzt. Schließlich waren sie die Geburt eines Traums, und der Teufel steckt im Detail. Und unter den Kollegen weht ein rauer, boshafter Wind. Die Idee der Wellenformationen hat mich aber nicht mehr losgelassen. Nach außen blieb ich der vorsichtige, seriöse Wissenschaftler, aber im Geheimen wurde ich kühn. Ich wagte mich insgeheim immer weiter auf ein Gebiet vor, das nicht mehr vom hellen Lichtkegel der Intersubjektivität beleuchtet wurde, und suchte nach der Zauberkraft des Wortes. Heute aber, nach allem, was inzwischen passiert ist, muss ich auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Die jungen Leute sollen es wissen.
„Dies ist weniger Linguistik als das reine Gold der Alchemie“, sage ich deshalb zu meinen Studenten und bedaure, dass Georg Andres nicht hier ist, „denn hier nähert man sich dem Wunder des Bewusstseins an.“
In der Tat ist die Sprache ein offenes Fenster, durch das man etwas über das Bewusstsein erfahren kann.
„Leider wird die Frage nach dem Bewusstsein in der Sprachwissenschaft kämpferisch ausgeklammert“, fahre ich fort und kämme mit der Hand durchs Haar, „so, als ob es überhaupt kein Bewusstsein gäbe. Die Frage nach dem Bewusstsein gilt als unseriös oder zu schwierig. Dabei ist Sprache doch ein Transformator, der das eine bewusstseinsfähige System, nämlich eine Laut- oder Buchstabenfolge, in ein anderes, nämlich in eine Bedeutung, umwandelt. Der Transformationsvorgang selber ist weitgehend unbewusst, obwohl die Großhirnrinde involviert ist, und obwohl die gängige Lehrmeinung ist, dass diese der Sitz des Bewusstseins ist, und Gegenstand der Neurolinguistik.“
Dem lasse ich ohne Absicht ein längeres Schweigen folgen. Die Studenten schauen nämlich etwas verdutzt drein, denn der Schluss meines letzten Satzes kam etwas unvermittelt. Ich liebe aber solche Satzkonstruktionen. Ich überlege nun, ob ich die jungen Leute auf einen grundsätzlichen Sachverhalt hinweisen soll, der als ein Hintergrundphänomen immer da ist, der aber in den Wissenschaften gar nicht wahrgenommen wird. Wenn ich den Bogen überspanne, denke ich abwägend, mache ich alles kaputt. Aber nichts kann mich mehr bremsen.
„In den Wissenschaften gibt es bekanntlich einen reduktionistischen Zug.“
Die Pause diesmal ist inszeniert. Ich blicke herausfordernd in die Runde. Meine Äußerung soll nachwirken und den Studenten die Möglichkeit geben, sie zu überprüfen. Vielleicht wissen sie nicht genau, was ich meine, aber der Ofen ist vorgeheizt. In meinem Fach nennt man das Priming.
„Mentale Phänomene sollen auf biologische, diese auf chemische, und diese auf physikalische Phänomene zurückgeführt werden“ doziere ich. „Dies ist insofern erstaunlich, als die Physik Ähnlichkeiten enthält, etwa als Invarianten, und die Ähnlichkeiten auch draußen in der Welt vorfindet. Die Ähnlichkeit aber ist eine Relation, die Eigenschaften miteinander in Beziehung setzt auf Grund der Tatsache, dass es Eigenschaften sind und nicht Ladungen oder Massen et cetera. Die letzteren werden durch den Elektromagnetismus, die Gravitation und so weiter korreliert. Die Physik kennt keinen Begriff der Eigenschaft, und damit enthält sie einen mentalistischen Kern, der nicht eliminiert werden kann. Die Reduktion misslingt.“
Ich mache erneut eine kurze Pause und lasse die Worte einsickern, bevor ich zur Schlussfolgerung komme: „Die Ähnlichkeit selbst ist mit einem Urteil verbunden oder aber ein sinnloser Begriff. Will man den vermeiden, muss man annehmen, dass es Bewusstsein überall im Universum gibt.“
Wieder schweige ich, und ich überlege, ob ich noch weiter gehen soll. Ich habe meine Zweifel, denn nur Erlebtes überzeugt, und eine Abstraktion kann man nicht erleben. Aber schließlich hatte ich angekündigt, dass ich heute das Ergebnis meiner Forschung präsentieren werde, und meine Theorie ist Zeugnis meiner innigen und leidvollen Beschäftigung mit Sprache. Die Studenten haben ein Anrecht darauf. Also gebe ich mir einen Ruck und expliziere zunächst die Ähnlichkeitsrelation. Ich lege die Ähnlichkeit gleichsam unter das Elektronenmikroskop. Danach gehe ich von unanalysierten Eigenschaften aus und dringe in Neuland vor. Ich zeige den Studenten, wie sie Wortbedeutungen mittels der Ähnlichkeit in andere Eigenschaften integrieren können, wie dabei Merkmale entstehen und Sinn. Ich spreche vom Hunger des Bewusstseins nach Sinn und nach Neuem, was der Gefordertheit entspricht, sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zu erzeugen, und expliziere die orthogonale Ähnlichkeit als die Struktur einer Eigenschaft und somit als die einer sprachlichen Bedeutung. Es liege, so sage ich, eine Paradoxie vor, eine echte Coniunctio oppositorum. Die Alchemisten hätten es schon damit gehabt. Ich vertrete die Auffassung, dass sich Bewusstsein über solchen Eigenschaften konstituiert, dass es mit ihnen aber nicht identisch ist. Genauso wenig etwa, wie ein magnetisches Feld mit der Kupferdrahtspule, durch die elektrischer Strom geschickt wird, identisch ist. Das Gehirn würde Eigenschaften generieren und das Bewusstsein herholen wie die Magnetspule den Magnetismus.
„Ja, bitte?“
„Sie sagten vorhin, Bewusstsein gibt es überall im Universum. Soviel ich weiß, hat bereits John von Neumann, das Mathematikgenie, diese Auffassung vertreten. Er aber hielt sich an die Informationstheorie, während Sie das Bewusstsein wie eine Kraft behandeln. Ist das ein raffinierter Materialismus? Ehrlich gesagt, wenn ich Ihnen so zuhöre, steht er mir in einer Tour.“
Alle lachen. Oliver Hirsch hat es zwar charmant gesagt, zielt aber unter die Gürtellinie, und mir hat es die Sprache verschlagen.
Etwas hilflos zeige ich auf meine Schlingerzeichnung an der Tafel. Sie warten, wie ich reagiere. Schließlich antworte ich: „John von Neumann war ein Zyniker und ist nicht mein Vorbild. Er hat die optimale Explosionshöhe für die Hiroshima-Bombe ausgerechnet und plädierte nach dem Krieg für den atomaren Erstschlag. Er war das Vorbild für Dr. Strangelove in Kubricks gleichnamigem Film. Im Übrigen erklärt die Informationstheorie nicht, wieso die Dinge miteinander in Zusammenhang geraten.
Und dann überfällt mich folgende Fantasie:
Alle drehen die Köpfe zur Tür, denn sie geht auf und die schlanke, etwas schlaksige Gestalt Georg Andres’ steht im Türrahmen. Mein Herz hüpft ungefähr bis zur Zimmerdecke. Der Instinkt muss ihn hergetrieben haben. Er wirft einen Blick auf die Runde, lächelt zu mir herüber und tritt ganz ein, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Nun steht er in seiner mit Blümchen gesprenkelten Hose da, scharf wie eine Chilischote und doch unglaublich süß. Er hat tatsächlich eine Pyjamahose an! Ein breites Sonnenband scheint zu ihm hinüber, und seine Hose schillert in allen Farben.
„Was geht ab?“, fragt er.
Einen Augenblick lang wird mir schwindelig vor Sehnsucht, mein Neokortex ist leergefegt und mein limbisches System steht kurz vor der Kernschmelze, aber ich fange mich schnell. Schon habe ich wieder die Zügel in der Hand. Ich fahre fort, als wäre nichts gewesen.
„Ich sagte vorhin, Bewusstsein gibt es überall im Universum. Ihren Kommilitonen Hirsch scheint das zu erregen.“
Wieder lachen einige. Doch die meisten starren verwundert auf Georg Andres in der Tür.
Dieser hört zu lächeln auf, und nun wird das Ganze völlig surreal. Es beginnt ein eigenartiges Spiel zwischen ihm und mir. Er wirft mir den Ball mit den Worten „Sie haben das Figur-Grund-Schema generalisiert“ wieder zu. Weiß der Geier, woher er das weiß.
Der Dialog, der folgt, ist wie ein Pingpong-Spiel, in dem die Redebeiträge zwischen uns hin und her fliegen. Wir rollen alles noch einmal auf, meine ganze Theorie, die ich plötzlich einfach finde wie alles Geniale, wir jagen im Schweinsgalopp hindurch und haben einen Heidenspaß dabei. Die Studenten, die glaubten, es hinter sich gebracht zu haben, ducken sich erst weg, dann wundern sie sich.
„Aber den Schubs dazu haben Sie mir gegeben“, sage ich anerkennend.
„Aber die Idee habe ich Ihnen eingepflanzt, obwohl Sie es nicht merkten“, bestätigt er.
„Sie waren der Stein des Anstoßes.“
„Ich war der Stein, der verworfen wurde, und der zum Eckstein wurde“, sagt er.
Damit verlasse ich die Fantasie wieder.
Insgeheim frage ich mich nun, ob meine Studenten offener sind als ich es war. Schließlich sind sie wie ich durch eine akademische Ausbildung gegangen, die ihr Denken verhunzt hat. Menschen sind Gefangene der Systeme, in denen sie denken, sie sind voreingenommen und urteilen über Dinge, die sie gar nicht kennen. Das war immer schon so. Thomas von Aquin zum Beispiel behauptete, dass zwischen Mensch und Tier keine Freundschaft möglich sei, weil es ihm so in seinen anthropozentrischen Kram passte, und weil er vermutlich ein emotionaler Krüppel war, aber ich erlebe täglich das Gegenteil mit meiner Katze. Die akademische Welt heute ist materialistisch. Vielleicht können mich meine Studenten deshalb gar nicht verstehen. Vielleicht hätte ich meinen Vortrag besser in ein Kissen gesprochen, oder in eine Grube wie in der Geschichte von König Midas. Aber immerhin habe ich mich an den intellektuellen Diskurs gehalten, und den habe ich mit ihnen gemeinsam. Dennoch: Das ganze rationale Denken hinterlässt in mir ein hohles Gefühl. Das Gefühl einer Erbse, die in einer Schote rasselt. Ach, was würde ich ihnen gerne zujubeln, dass ich glaube, dass die eigentliche „Substanz“ des Universums Bewusstsein ist! „Substanz“ selbstverständlich in Anführungszeichen.
Aber ich halte mir erneut vor Augen, dass meine Zuhörer Adepten aus der akademischen Zunft sind, und Akademiker jubeln nicht. Ich sage stattdessen knapp: „Meine Theorie impliziert einen Pantheismus oder Panentheismus.“, und lasse es dabei bewenden.
Nicht so Georg Andres. Er ist noch nicht fertig. Er triumphiert und wirft dem Hirsch einen Blick hin als wär’s ein Fehdehandschuh. „Das ist kein Materialismus. Das ist eine Vorstellung von Gott! Jetzt darfst du erregt sein!“
Danach dreht er sich um und zieht die Tür hinter sich zu. Oliver Hirsch steht ebenfalls auf und folgt ihm. Doch außerhalb der Tür geht er in die entgegengesetzte Richtung den Gang entlang und singt so laut, dass alle es hören können, die Internationale.
Meine Fantasie verabschiedet sich endgültig.
Ich sinke auf einen Stuhl. Ein entspanntes Raunen läuft durch die Schar der Studenten. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet. Ich lasse den Blick kreisen und füge etwas resigniert hinzu: „Ich sehe schon, die Sache kommt Ihnen spanisch vor.“
Erneut überlege ich, ob ich noch weiter gehen soll. Doch ich nehme davon Abstand.
„Wellen gibt es natürlich komplexere als die hier“, fahre ich stattdessen fort und zeige auf meine Schlingerzeichnung. „Denken Sie zum Beispiel an Fourier-Reihen. Jedes beliebige endliche Signal kann über die Fourier-Transformation in orthogonale Frequenzen zerlegt werden.“
Die Studenten horchen auf und nehmen die Habe-Acht-Stellung ein. Die wenigsten von ihnen sind mit dieser Mathematik vertraut. Ich beruhige sie und sage, dass es reiche zu wissen, worum es geht. Ich erkläre ihnen das Prinzip.
„Wieso“, frage ich dann die verdutzten Gesichter unvermittelt, „ist Sprache gequantelt? Ich meine damit: Haben Sie verstanden, warum Bedeutungen immer Einheiten sind, und wieso diese Einheiten, die ja strictu sensu immer ganz und ungeteilt sind, Teile haben können?“ Und erläuternd füge ich hinzu: „So wie Ihr Gesichtsfeld. Oder so wie Ihr Bewusstsein insgesamt. Nun, ich habe es Ihnen erklärt.“
Gelegentlich habe ich im Unterricht Gedichte rezitiert oder aus einem der vielen literarischen Bücher vorgelesen, die ich den linguistischen bei weitem vorziehe. Manchmal habe ich auch kalauerische Witze über meine Wissenschaft gerissen. Alles, um die Tristesse des Faches etwas aufzulockern. Nur wenige haben dann gelacht, Stefan Harms aber immer, und ich hatte kein einziges Mal das Gefühl, dass er mir damit nur einen Gefallen tun wollte. Über Kollegen sprach ich fast nie, und wenn, dann nur in knappen Schüttelreimen.
Ich überlasse die Schlingerlinie an der Tafel sich selbst.
„Warum studieren Sie Linguistik?“, frage ich provokant.
Statt eine Antwort abzuwarten, hole ich nun feierlich wie ein Priester Isherwoods autobiografisches Buch Löwen und Schatten aus meiner schwarzen Aktentasche. Isherwood hat hauptsächlich autobiografische Texte geschrieben. Dies ist das einzige Buch, das ich heute dabei habe. Es handelt sich um Erinnerungen aus seiner Studentenzeit. Diesem Buch entstammt auch der automatisch geschriebene Satz Edward Upwards vom Anfang der Sitzung. Ich will eine ganze Passage daraus vorlesen. Ich habe sie zuhause mit einem Zettel eingemerkt, damit ich sie gleich finde. Dies soll neben der Schlingerlinie mein zweites Vermächtnis an meine Studenten sein. Ich will ihnen klarmachen, dass sie ihrer innersten Neigung folgen sollen, und dass sie damit nicht bis zur Pension warten sollen wie ich, aber ein Blick verrät mir, dass ich mich in den Seiten vertan habe: Ohne Warnung spritzte ihm zu jeder erdenklichen Tageszeit plötzlich das Blut aus seiner Nase, wie hervorgezwängt von dem ungeheuren geistigen Druck hinter diesem scharlachroten, anklagenden Gesicht; kein kühler Schlüsselbund, keine Kaltwasserkompresse konnten es anhalten, bis sich die neurale Wunde, wie es schien, ausgeblutet hatte.
Statt die Stelle vorzulesen starre ich stumm auf die offenen Seiten. Mitten in sie hinein fallen nacheinander ein, zwei, drei, vier Tropfen dunkles Blut, meine Blutgruppe, A Rhesus positiv. Ich fühle mich vom Schicksal ertappt. Ich klappe das Buch zu. Im Seminarraum wird es still. Mit dem Handrücken wische ich über die Nase und betrachte die rote Spur, die ich gezogen habe.
Nun gehe ich gemessenen Schrittes nach draußen auf die Männertoilette, während das Blut aus meinen Nasenlöchern sickert, und ich überlege, ob das, was ich soeben erlebe, vorher irgendwo niedergeschrieben sein musste, damit ich es erleben kann, oder ob es ein synchronistisches Phänomen im Sinne C.G. Jungs ist, was beides für irgendeine Zauberkraft spräche, oder ob ich die Textstelle unbewusst ausgesucht habe und die Blutung ebenso unbewusst lanciert ist oder nur blinder Zufall, weil ich oft blute, und versuche, den anwachsenden Blutstrom mit kaltem Wasser zu stoppen.
Genau jetzt, in der Klausur des Klosetts, während das Blut aus meiner Nase in das Waschbecken fließt und ich den Fluss mit Kälte zum Versiegen zu bringen versuche, spritzt auf der anderen Seite des Atlantiks rotbraunes Erdöl mit einem Druck von hundertfünfzig Atmosphären aus einem Bohrloch in den Golf von Mexiko. Hinter dem sprudelnden Öl steht nicht der Geist des Menschen mit seinem ungeheuren Druck, sondern die Gier in Verbindung mit dem Größenwahn. Sie bringen tausenden und abertausenden von Tieren den Tod. Vom allerersten Tag der Nachricht an habe ich die Vorahnung einer großen Katastrophe. Seither bin ich deprimiert und schlafe nicht vor fünf Uhr morgens ein. Seitdem halte ich alle meine Anstrengungen, die Zauberkraft des Wortes zu finden, entweder für wichtiger denn je oder für obsolet. Ich kann mich nicht entscheiden. So wie der Untergang der Titanic nicht nur an sich schon eine große Katastrophe war, sondern eine noch schlimmere ankündigte, nämlich den ersten Weltkrieg, so ahne ich diesmal, dass es noch schlimmer kommen könnte. Ich glaube in einem Anfall von Drehschwindel, dessen wegen ich mich an dem Waschbecken festklammern muss, dass das Loch nur gestopft werden kann, wenn die Nationen der Welt ihre gesamten Goldreserven mit dem Gegendruck der Demut in die Öffnung hineinschießen. Das Gold und die anmaßende Lebenshaltung. Sie müssen sie verlieren. Sie müssen sie loslassen.
Das Blut hört auf zu rinnen. Ich warte noch einige Minuten, dann verlasse ich den hellgrau gekachelten Toilettenraum. In dem Augenblick, in dem ich die Tür hinter mir zuziehe und auf den langen Gang hinaustrete, sehe ich am anderen Ende David Lewis, unseren schwarzen Gastprofessor aus Boston, aufs Sekretariat zueilen. Bei Schwarzen fällt mir Afrika ein, bei Afrika der Schriftsteller John Mary Coetzee, obwohl der weiß ist. Bei Coetzee denke ich speziell an Südafrika, auch wenn er jetzt in Australien lebt. Mit Südafrika kommt mir in den Sinn, dass in drei Wochen am Kap der Guten Hoffnung die Fußballweltmeisterschaft beginnen wird. Die Medien werden dann nur noch vom Fußball berichten und nicht mehr von sterbenden Seevögeln und toten Delfinen, man wird wieder guter Hoffnung sein und das ins Meer sprudelnde Öl für mehrere Monate vergessen, bis ein neuer Versuch unternommen wird, das Bohrloch zu schließen, und das Straßenbild wird von kleinen Flaggen meines Landes bevölkert sein.
Ich kehre in den Seminarraum zurück, und das Gemurmel legt sich sofort. Alle sehen mich erwartungsvoll an. Sie sind bereit für weitere Offenbarungen. Ich verblüffe meine Studenten. Statt zur Linguistik oder zu Isherwood zurückzukehren, rezitiere ich eine Strophe aus einem Berliner Schlager des Jahres 1910, nachdem ein großer Komet gesichtet worden war:
Aber statt vor Angst zu beben,
lasst uns lustig vorwärts seh’n.
Kinderchen, wird das ein Leben,
wenn wir alle untergeh’n!
Ich bin als Dozent untragbar geworden.
„Ihre Scheine“, sage ich schroff und acht Wochen zu früh, „können Sie sich im Sekretariat abholen.“
Ich packe meinen Isherwood in die Tasche zurück und verlasse schweigend den Raum. Niemand folgt mir. In meinem Büro räume ich auf. Viel ist dort nicht mehr, was ich mitnehmen möchte. Das meiste hat schon die Tristesse aufgezehrt. Bis zur Pensionierung fehlen mir aber noch zehn Jahre. Die Topfpflanzen (einen Elefantenbaum, eine Dracena und einen Papyrus) gieße ich ein letztes Mal. Ich lege einen Zettel auf den Schreibtisch, dass man sich um sie kümmern soll. Ich verlasse die Universität für immer und beginne ein Leben zu leben, in dem ich mich wiedererkenne.
Zu meiner Katze, die schnurrend links neben mir auf dem Schreibtisch sitzt und mir verliebt in die Augen blickt, sage ich: „Ich würde gern einmal eine einfache Geschichte schreiben, eine Idylle, eine Geschichte mit viel Frühling.“
Vom selben Autor sind im Buchhandel erhältlich
Buschseelen (Roman)
Gesänge an die Toten (Erzählungen)
Die Elenden, Mrs. Kingsford & Herr Goldschmidt (Roman)