Gerhard Reule – Erzählband „Gesänge an die Toten“

Textauszüge aus der Erzählung Das Leben des Juan Caméras aus dem Erzählband Gesänge an die Toten:
1.
So hätte es sein können, aber so ist es nicht gewesen.
     Denn die Frau, die in jener Vollmondnacht kam, war keine japanische Prinzessin. Statt ihrer kam eine gewöhnliche Japanerin mit dem Namen Himiko. Sie hatte einen großen Beutel bei sich und blieb. Sie erzählte, dass die Portugiesen sie entführt und nach Portugal verschleppt hätten, um sie dort auszustellen. Sie habe fliehen können und sei seither schon ein Jahr lang auf der Flucht. Sie bitte mich inständig um Unterschlupf.
     Den gewährte ich ihr. Von nun an begleitete sie mich auf Schritt und Tritt. Sie lief mir hinterher wie ein Hündchen und redete pausenlos. Sie berieselte mich mit ihren Worten wie mit Wasser aus einer Gießkanne. Wenn die eine leer war, stand schon die nächste parat. Dabei wusste sie nichts von Japan, was mich interessiert hätte. Auch von der Überfahrt wusste sie nichts zu berichten. Nicht einmal von Portugal. Ihre Geschichte fing in Spanien an.
     Wie meine. Aber anders als ich erzählte sie von den belanglosesten Sachen: von Samtkleidern, die sie gesehen habe, sich aber nicht leisten könne, von allerlei Frauenputz  oder davon, auf welchen Märkten man in Spanien besonders billig einkaufen könne, wie ihr Männer hinterher gepfiffen hätten (sie sich aus Gründen der Flucht aber ohne sie in die Büsche habe schlagen müssen), wie sie mit dieser oder jener Frauenperson Streit bekommen habe, wer geheiratet habe, wie viel irgendwelche Ehemänner verdienten, wie schlecht das Essen im Kerker sei, wie gut zu Hof und wie einfach bei den Hirten, wie viele Frauen es doch gebe, die nicht kochen könnten und so weiter und so fort. Immer wieder habe sie fliehen müssen, und jetzt wage sie sich gar nicht mehr unter die Menschen. Ich hörte nur noch mit einem halben Ohr hin, dann schaltete ich ganz ab. Um plötzlich mit einer unerwarteten Frage aus meinen Gedanken gerissen zu werden: „Und Sie?“
     Das erste mal versuchte ich noch, der Peinlichkeit damit auszuweichen, dass ich ihr das Du anbot. Aber das kann man ja nur einmal. Himiko war eine Nervensäge.
     Hinzu kam, dass sie dauernd irgendetwas wusch. Da wir nicht viel hatten, wusch sie meistens ihre Hände. Sogar, wenn sie mich angefasst hatte, ging sie manchmal zum Bach und wusch sich die Fingerspitzen. Sie zog sie nach einem kurzen Bad aus dem Wasser, tauchte sie noch mal ein und noch mal und noch mal. Dann schüttelte sie sie ab und kam mit gespreizten Fingern zurück. Solange diese nass waren, rührte sie nichts anderes mehr an. Wenn sie sich selbst wusch, musste ich wegschauen. Und in meiner Klause hing sie einen Fetzen Stoff auf, den sie irgendwo gefunden hatte. Mit ihm trennte sie ihre Schlafstätte ab.
     Ich machte ihretwegen einen neuen Goldpeso locker und kaufte im Dorf bei zwei jungen Bauersleuten eine Wollmatratze, die sie mir brachten, und Verschwiegenheit. Nun hatte Himiko ein eigenes Bett. Natürlich war das auch in meinem Sinn.
     Da sie glaubte, sich verstecken zu müssen, konnte sie nicht mit mir ins Dorf. Bloß, was war das für ein Kampf, als ich das erste Mal ohne sie losgehen wollte. Und als ich zurückkam, hatte sie schon auf mich gewartet. Sie überschüttete mich mit einer Mixtur aus Fragen und Vorwürfen. Auch in Zukunft ließ sie mich nur widerwillig gehen. Ich indessen fing an, unten im Dorf für die Seelen der Tiere zu werben. Weil ich auf taube Ohren stieß, wurde ich traurig.
     Als ich Jorge kennen lernte, war der Ofen ganz aus. Himiko flennte einen ganzen Nachmittag lang. Sie saß im Haus neben dem Fenster und weinte. Dann ging sie zu ihrem Beutel, der in ihrem Séparée an der Wand hing, holte ein Papiertaschentuch heraus, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und schnäuzte sich. Daraufhin knüllte sie das Taschentuch zusammen und warf es auf die Feuerstelle. Nun ging sie zur Tür hinaus und hinunter zum Bach. Sie wusch sich die Fingerspitzen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl, um weiterzuheulen. Nach einer Weile stand sie auf, holte ein neues Papiertaschentuch, schnäuzte sich geräuschvoll, warf es auf die Feuerstelle, ging zum Händewaschen, kehrte zurück und weinte weiter. Sie stand auf, ging zu ihrem Beutel, der im Separée an der Wand hing, holte ein Papiertaschentuch, setzte sich auf den Stuhl neben der Tür, schnäuzte sich, knüllte das Taschentuch zusammen, warf es auf die Feuerstelle (ein Berg aus weißen Papiertaschentüchern war im Entstehen), ging zum Bach, wusch die Fingerspitzen, kam mit gespreizten Fingern zurück, heulte weiter… Es war zum Heulen!
     Am nächsten Morgen sagte ich ihr, dass sie schwierig sei. Daraufhin verließ sie wütend das Haus und knallte die Tür zu.
2
Ich bin der Oberarzt und mein Plan, diese beiden Verrückten mit einander zu konfrontieren, war gut. Dem zweiten hat die Begegnung nichts gebracht, aber geschadet hat sie ihm auch nicht. Zwar hat sie ihm nicht geschadet, aber genützt hat sie ihm ebenfalls nicht. Und wenn sie ihm geschadet hätte, dann hätte sie ihm genauso wenig genützt. Bloß wenn sie ihm genützt hätte, dann hätte sie ihm nicht geschadet. Beim ersten kam etwas in Bewegung. Zwar hat er seine Wahnvorstellungen nicht fallengelassen, aber immerhin hat er sich anscheinend an mehr erinnert als zuvor. An Dinge, die so klingen, als hätten sie Hand und Fuß, obwohl man sie bisher noch nicht bestätigen konnte. Der zweite Name, den er sich in Erinnerung rufen konnte, war ein anderer als der erste, aber beide, an die er sich erinnert hat, waren andere als derjenige, an den er sich nicht erinnert hat, aber sicher einmal erinnern konnte. Und dieser Name war ein anderer als derjenige des zweiten Verrückten, obwohl die beiden ersten Namen, die sich beide in Erinnerung riefen, identisch waren, und der zweite Verrückte sicherlich einen anderen Namen hatte als der erste, den er nicht wusste. Vermutlich hatte er einen anderen Namen, auch wenn sich beide nicht an ihre Namen erinnern können. Immerhin war das, was der erste an Namen zu sagen wusste, doppelt so viel wie das, was dem zweiten einfiel, wenngleich es unwahrscheinlich ist, dass auch nur ein einziger dieser Namen richtig ist. Immerhin kann man die Hypothese formulieren, dass es jemanden geben muss, der den einen, und jemand anderen, der den anderen Namen kennt, aber diese Hypothese ist bisher nicht bewiesen, weil niemand den Namen des einen, der den einen Namen kennt, noch den des anderen kennt. Und so wird sich die Spur verlieren, wenn wir diejenigen, die diese Namen kennen, nicht finden, oder wenn ich keine Lust mehr habe, den Namen des einen oder des anderen herauszufinden, oder ganz einfach, weil ich die Möglichkeit, dass die beiden Namen haben, aus Ermüdung verdränge, so wie die beiden Verrückten ihre Namen verdrängt haben, obwohl verdrängen sicher nicht das richtige Wort für eine Amnesie ist. Überhaupt wird sich die Spur spätestens dann verlieren, wenn einer nach dem anderen stirbt, erst der erste Verrückte, dann der zweite, dann ich oder erst der zweite Verrückte, dann der erste und dann ich und so weiter. Vielleicht werde ich sterben, ohne je ihre Namen gekannt zu haben, so wie der Psychologe in völliger Unkenntnis ihrer Namen gestorben ist. Was der erste Verrückte jetzt über sich erzählte, klingt zumindest plausibel. Allerdings auf Kosten der Kohärenz, denn jetzt existieren zwei widersprüchliche Universen in seinem Bewusstsein nebeneinander. Die neue Geschichte extra genommen ergibt aber ein bisher widerspruchsfreies Bild. Ich habe noch mal bei beiden versucht, sie aus der Reserve zu locken, indem ich auf ihre Obsessionen einging. Das Aus-der-Reserve-Locken gehört zur Methode. Anscheinend haben beide ein inflationiertes Sendungsbewusstsein, das Teil ihres Krankheitsbildes ist. Dieses sich Versteifen auf den Weltuntergang ist dafür typisch. Zur Jahrtausendwende sind diese Vorstellungen vom Weltuntergang allgemein aktualisiert. Sie sind weiter verbreitet, als man denkt. Manche Menschen haben davor Angst, aber fast allen von diesen Personen ist gemeinsam, dass sie versteckt oder offen damit drohen. Wenn die wüssten, welch lange Tradition das schon hat. Mit dem Weltuntergang drohen konnte man schon immer, die jüdischen Propheten haben es getan und die christlichen Kirchenväter waren auch nicht zimperlich, aber heute kann man damit besser drohen denn je, weil es Atomraketen gibt. Dennoch ist es nicht sicher, dass der Weltuntergang kommt, denn der Mensch ist heute rational und hat Kontrollmöglichkeiten, die größer sind als jemals zuvor, als es noch keine Atomraketen gab. Überhaupt könnte heute, weil der Mensch im allgemeinen aufgeklärt ist, weder ein Prophet noch ein Kirchenvater mit dem Atomschlag drohen, denn erstens sind sie nicht im Besitz der Raketen, und zweitens sind die Menschen heute meistens so vernünftig, dass sie sich nicht drohen lassen, es sei denn mit Raketen. Außer jene bemitleidenswerten Menschen, die labil oder verrückt sind und für jede irrationale Angst offen. Aber dieses ganze Psychologisieren hat wenig wert. Ich werde jetzt die ganze Palette an neurologischen Untersuchungen anordnen, auch wenn es therapeutisch nichts bringt, und dann mit der Medikation anfangen. Zwei meiner Studenten können dann zumindest über das Thema promovieren.
     Heute ist die Ausschreibung für die vakante Stelle des Psychologen in der Zeit. Den Tod des ehemaligen wird man wohl nicht aufklären. Die Polizei tut ihr Bestes, aber sie hat bisher keine Spur gefunden, die heiß wäre. Alle Spuren haben sich im Schnee verlaufen, heiße Spuren hätten sich tiefer eingegraben, so dass man sie verfolgen könnte, gewissermaßen, so wie die Spuren für die Namen der beiden Verrückten sich verlaufen haben, obwohl es da nie richtige Spuren gab, sondern nur falsche Namen. Der Psychologe hinterließ die Todesanzeige, die aber keine Spur ist, sondern nur merkwürdig. Die Sache mit seiner Todesanzeige passt mir nicht in den Kram, weil sie erstens zutraf und zweitens irrational ist, obwohl es auch Rationales gibt, das mir nicht in den Kram passt, aber das ist etwas anderes. Die Todesanzeige ist beängstigend absurd und beunruhigend seltsam. Wahrscheinlich aber war’s reiner Zufall. Ich muss mal zu den Mathematikern rübergehen, vielleicht kann mir einer die Wahrscheinlichkeit von solch einem Geschehen ausrechnen. Es würde mich schon ärgern, etwas Paranormales für möglich halten zu müssen. Aber auch unter den Parapsychologen gibt es ja ganz vernünftige Leute, die mir sicherlich sagen würden, dass durch solch ein Ereignis die Gesetze der Physik nicht verletzt sind. Da gibt es halt irgendwelche uns noch unbekannten Systemverschränkungen. Wie sollten die Gesetze der Physik auch verletzbar sein, dafür kann man bestimmt irgendwelche Systeme, die sich auf uns verborgener Art miteinander vermischen, verantwortlich machen. Wir werden Systemverschränkungen fordern und ihre Leugnung verfolgen unter Androhung der Exkommunikation aus der wissenschaftlichen Sozietät. Reproduzierbar sind solche Ereignisse ja nie, da ist Skepsis angebracht, finde ich, ist da Argwohn. Früher oder später wird die Wissenschaft diese Rätsel lösen. Der Fortschritt lässt mich hoffen. Der Fortschritt lässt uns alle hoffen wir auf eine fortschrittliche Zukunft. Hoffen läßt er uns. Hoffentlich läßt er mich, ich meine uns. Pfui Teufel, es schneit ja alles zu!
3.
Mein Mäuerchen am Fluss hielt sich nicht einmal bei Sonnenschein aufrecht. Erst sah es aus, als hätte es einen Bauch, dann kippte es und stürzte ein. Ich baute es mehrmals auf. Wie viel weniger stand es bei schlechtem Wetter. Der Regen brachte aber dennoch die Wende zum Guten. Und die Schneeschmelze viel Wasser im Fluss.
     Eines Tages wanderten auf der Straße, die nahe an meiner kleinen Baustelle vorbeiführte, zwei Kinder daher. Die Stadt lag fern auf dem Hügel, und die Brücke, über die sie gekommen waren, sah man kaum noch. Sie aber sahen mich und kamen zu mir herüber. Ein schöner Junge in meinem Alter führte seine neunjährige Schwester an der Hand. An ihren Kleidern sah ich gleich, dass sie adelig waren. Das Mädchen hatte einen runden Kopf und ein fröhliches Gesicht, auf dem die Nässe glänzte. Der Junge sah mich mit großen, dunklen Tieraugen an. Der Regen zog sein schwarzes Haar glatt. Die beiden glaubten sofort zu verstehen, warum ich in einer Einsiedelei leben wollte. Sie würden selber die Nähe zu Gott suchen, sagte der Junge. Er hieß Rodrigo, und mir schoss das Blut in die Wangen. Aber sie würden IHN nicht in der Einsamkeit suchen, sagte er, sie wollten IHN auf kürzestem Wege finden. Deshalb seien sie unterwegs in das ferne Maurenland. Ich erschrak. Warum sie Gott bei den Muslimen zu finden hofften, wollte ich wissen. Sie hätten die Hoffnung, dort geköpft zu werden, erklärte Rodrigo und zwinkerte mir mit einem Auge zu. Das verstand ich noch weniger, das Zwinkern mein ich. Dabei ließ er seine Schwester Teresa los und zeigte mit einer flatterhaften Bewegung der Hand nach Süden. Sein Wink flog durch die Regenschwaden über die Ebene voll gelben Grases zur blauen Kette der Sierra de Gredos. Anschließend besichtigte er fachmännisch meinen ruinenhaften Bau. Er setzte selber ein paar Steine aufeinander. Schließlich gab er mir den Tipp mit dem Lehm.
     „Du brauchst einen Kitt, damit die Steine zusammenhalten“, sagte er.
     Er sah sich um. Weiter flussaufwärts gab es statt der Steine und an Stelle des sandigen Bodens eine lehmige Böschung. Wir gingen hin, er lief voraus. Er ließ sich nicht lumpen, er begann als erster, die Böschung hinunterzuklettern. Vielleicht war es die Vorsehung, vielleicht auch nur Zufall, jedenfalls rutschte er ab, noch bevor seine Schwester und ich ihn halten konnten, und er schlitterte wie auf Schmierseife hinunter in den Fluss. Ich fand es wunderbar, wie vollendet sich das vom Regen gepeitschte Wasser über ihm schloss. Der kleinen Teresa stockte der Atem. Sie starrte gebannt auf die Wasseroberfläche, die im Regen Blasen warf. Erst als Rodrigo weiter flussabwärts wieder hochkam, um gleich wieder zu versinken, stieß sie einen schrillen Schrei aus. Rodrigo trieb auf eine Biegung des Flusses zu. Ich kannte ihn. Ich schnitt dem Jungen den Weg ab. Dort, wo ich spritzend ins Wasser stob, war es seicht. Rodrigo hatte – was ich nicht wusste – unter Wasser stets die Luft angehalten, und immer, wenn er hochkam, geatmet. Er konnte nämlich fast schwimmen, und deshalb kam er auch oft genug hoch. Aus lauter Angst vor den Gefahren der Tiefe, vor Riesenkrebsen, Schlangen und Wasserhexen, zog er aber zwischendurch immer wieder die Beine an und ging unter. Hätte er sie ausgestreckt, hätte er jetzt schon festen Grund unter den Fußsohlen gespürt. Ich musste ihn nur noch anhalten.
     Er lag auf den Boden gestreckt wie ein williges Opfer. Ich sah, dass er atmete, aber er tat, als wäre er ertrunken. Vielleicht dachte er, er müsste es eigentlich sein, und wartete ab. Vielleicht tat er aber nur so, um Eindruck zu schinden. Teresa fing zu weinen an. Ich entdeckte nun erneut, wie schön dieser Junge war. Und obwohl mich sofort Gewissensbisse peinigten, ob das denn nicht Sünde sei, küsste ich ihn auf den Mund. Dabei kam mir die Idee, meinen Atem in seinen Mund hineinzublasen. Aufgespannt zwischen Wonne und Schuld legte ich meine Lippen auf die seinen, und angeregt durch den Rhythmus, der jeder Lust zu eigen ist, fing ich an, ihn zu beatmen. Da lachte er und schlug die Tieraugen auf.
     „Machst du das immer so?“
4.
Und erst mit neunzehn, in Peru, machte ich den Spaziergang, der wie ein Trichter war.
     Wir befanden uns im fruchtbaren Tal von Tangarala, ungefähr dreißig Leguas von Tumbez entfernt. Durch dieses Tal flossen mehrere Flüsse. Pizarro ließ die Schiffe nachkommen, denn er hatte den Entschluss gefasst, hier eine Stadt zu bauen. Sofort nach dem Eintreffen der übrigen Mannschaft wurde mit dem Bau begonnen. Das Holz kam aus den Wäldern, und die Steine aus in der Nähe gelegenen Steinbrüchen. Während der drei Monate, die wir für den Bau der Stadt benötigten, schlief ich stets unruhig. Ich glaube, wegen Francisco Pizarros Bruder Hernando, obwohl er mich in dieser Zeit in Ruhe ließ. Aber seinetwegen, glaube ich, war ich krank. Manchmal lag ich wegen des Fiebers bis in die Morgenstunden wach, um dann erschöpft in einen kurzen, flackernden Schlaf hineinzufallen. Eines Nachts stand ich trotz meiner Schwäche auf und ging, so gut ich konnte, – mit vielen Sitzpausen – weit außerhalb unseres Lagers in das Tal hinaus. Der Vollmond lächelte wie ein Bote aus der Heimat vom Himmel. In der Ferne sah ich die schneebedeckten Gipfel der Kordilleren schimmern, und auf meiner Stirn stand der Schweiß, der vermutlich auch schimmerte. Bald kam ich zu einem Feld, das mit seltsamen Pflanzen bewachsen war, und an dessen Rand ein junger Indio auf mich wartete. Er hatte die Figur von Rodrigo, was mich überraschte. Ich hatte das Gefühl, als kennte ich auch sein Gesicht, aber tatsächlich kannte ich es nicht. Dieses Gesicht eroberte mich wie ein Glücksfall. Die Augen des jungen Mannes lagen weit auseinander, und während ihn die Strahlen des Mondes trafen, schien eine Schneelandschaft zwischen ihnen zu glitzern (vielleicht hatte auch er Fieberschweiß auf der Stirn).
     Er blieb am Rande des Feldes stehen und sah mir aufmerksam zu, als ich es betrat. Ich trat äußerst behutsam auf. Bedächtig und doch mit schlingerndem Kurs setzte ich Schritt für Schritt auf den Boden, als wollte ich ihn vermessen und den Grund prüfen.
     Warum? Ich weiß heute nicht mehr, warum ich das Feld derart abgezirkelt abgehen wollte.       Je weiter ich so in das Feld hineinkam, desto offensichtlicher wurde, dass der Boden nur aus einer dünnen Haut aus grünen Pflanzen bestand, die auf einem dunklen, schwarzgallertigen Morast schwamm. Obwohl ich äußerst behutsam einen Fuß vor den anderen setzte und jedes Mal den Boden prüfte, bevor ich mein Gewicht verlagerte, brach ich schließlich ein. Ich sank mit einem Bein bis zum Oberschenkel in den Morast. Es gelang mir, das Bein wieder herauszuziehen. Ich stand wieder auf der Haut, und mir war schwindelig. Da griff jemand mit nackten Armen aus dem schwarzen Sumpf nach mir und klammerte sich mit beiden Händen an meinen linken Arm. Ich glaube, es war der linke. Ich wusste zunächst nicht, ob Mann oder Frau, aber wer mich da packte, wollte mir ans Leben. Dachte ich. Ich nahm alle meine Kraft zusammen, und wie ein Eselchen einen schweren Pflug, so zog ich meine Bürde in Richtung des Feldrandes. Zur gleichen Zeit zerrte mich die grausige Person in die andere Richtung, zu sich in den Morast. Da rief ich den Jungen um Hilfe, und der fasste mich am freien Arm und zog mich aus dem Dreck. Ganz souverän.
     Noch während er an mir zog, sah ich, dass an meinem linken Arm eine junge Frau hing.
     Wie? Nein, sie sah natürlich nicht wie meine Mutter aus. Wenn Sie mich weiterhin so oft unterbrechen, komme ich ganz durcheinander.
     Ich spürte, wie sie ihren Griff lockerte, um loszulassen. Da war ich es, der zugriff. Ich umfasste ihren Fußknöchel und zog sie hinter mir her, während der Junge mich auf den sicheren Boden holte. Sie war seltsam, denn sie schrie: „Rette mich!“, während sie zurück in den Morast wollte, als hätte sie panische Angst vor dem festen Grund. Kurz bevor wir es schafften, die Frau an Land zu ziehen, verwandelte sich ihr Aussehen. Ihr Kinn lief plötzlich spitz zu, sie erhielt harte, aggressive Gesichtszüge, und sie schlug mir den roten Schuh von jenem Fuß, den ich immer noch festhielt, links und rechts ums Gesicht. Der Fuß wurde zur Flosse und entglitt mir. Die Frau schlüpfte zurück in den Sumpf und verschwand. Irgendwer (ich glaube, schon damals war es ein Engel) tröstete mich: „Es ist nicht schlimm, von jemandem, der gerettet werden will, geschlagen zu werden.“
     Der junge Indianer zog mich ganz aus dem Sumpf heraus. Er lächelte, dass ich seine weißen Zähne sah. Dann drehte er sich um und lief weg wie ein scheues Tier. Wie ich den Weg zurück ins Lager schaffte, ist mir heute schleierhaft.

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